Die Wahrheit des Blutes
in einem runden Gesicht, dessen wenig ausgeprägte Züge nichts als Flachheit ausdrückten. Umso auffälliger wirkte die Schönheit von Naoko, die im Sailor Fuku der Schülerinnen, im Sommerkleid oder im Trainingsanzug auf fast allen Bildern neben ihr stand.
In der Schachtel mit Erinnerungen hatte Passan keine anderen Hinweise gefunden. Weder Ayumis Adresse noch Tagebücher von Naoko, die Auskunft über die Art ihrer Beziehung hätten geben können. Und auch keine Dokumente oder Arztrezepte, die mit Naokos Besonderheit zu tun hatten.
Schnell waren sie zu Shigeru weitergefahren. Er wohnte im koreanischen Viertel Shin-Okubo. Passan war nicht mit in die Wohnung gegangen, sondern hatte sich an einem Automaten Bargeld besorgt. Dabei stellte er fest, dass das Viertel für Tokioer Verhältnisse ein wenig ungepflegt wirkte. Er hatte sogar Zeit gehabt, sich im Stehen eine Schüssel Soba-Nudeln zu gönnen – angesichts der Atmosphäre im Hause Akutagawa wollte er Mama-san nicht um ein Sandwich bitten.
Shigeru war nicht mit leeren Händen zurückgekehrt. Er hatte die Visitenkarte des Psychiaters wiedergefunden. Takeshi Ueda lebte und arbeitete im Viertel Sugamo im Norden der Stadt, nicht sehr weit von Shin-Okubo entfernt. Außerdem hatte Passans Schwager Utajima gefunden. Es handelte sich weder um einen Tempel noch um ein Viertel in Nagasaki, sondern um eine Insel, die etwa vier Kilometer vor der Küste lag.
Im Taxi telefonierte der inzwischen wieder völlig nüchterne Shigeru noch ein wenig herum. Der letzte Flug nach Nagasaki startete um Viertel vor zwölf vom Flughafen Tokio-Haneda. Außerdem rief er die Hafenmeisterei in Nagasaki an, um Näheres über Utajima zu erfahren. Er erhielt die Auskunft, dass die nur wenige Quadratkilometer große Vulkaninsel eigentlich unbewohnt war, dass aber im dortigen Shintoschrein manchmal Kurse oder geistliche Übungen angeboten wurden.
»Handelt es sich um Kurse in Kriegskunst?«, wollte Shigeru wissen.
»In der Tat.«
Das war die entscheidende Antwort. Naoko und Ayumi hatten zweifellos intensive Zeiten auf dieser Insel verlebt. Dass sie sich ausgerechnet dort treffen würden, ließ nichts Gutes ahnen. Es würde wohl eher auf ein tödliches Duell als auf ein Picknick am Strand hinauslaufen.
Passan sah auf die Uhr. Schon neun. Ihm blieb eine Stunde, um den Psychiater auszuquetschen, eine weitere, um den Flughafen zu erreichen. In Nagasaki musste er dann improvisieren. Das Taxi aber kam nicht vorwärts. Trotz der Sparmaßnahmen hatte der Fahrer die Klimaanlage voll aufgedreht. Es war eiskalt im Wagen. Am liebsten wäre Passan über die Autodächer gerannt und hätte die Tür des Psychiaters eingetreten.
Aber gleichzeitig fand er seine Stadt wieder. Die Metropole ohne Konturen und Grenzen, ein Kaleidoskop von Neonlicht, Schriftzeichen und Spiegelungen. An jeder Straßenecke erschufen bunte Reklametafeln ein neues Bild. Hier waren alle Sparmaßnahmen vergessen. Drehte man sich um, veränderten sich Farben und Formen in schier unendlicher Kombination.
Dann plötzlich erlosch die grelle Werbung. Das Viertel, durch das sie jetzt fuhren, hatte einen völlig anderen Charakter. Die Straßen wurden enger. Die Schaufenster waren hier undurchsichtig, und statt Neonlicht gab es nur noch schwache Glühlampen.
»Sugamo«, flüsterte Shigeru.
Passan war an solche Kontraste gewöhnt. Tokio ist die Stadt der zwei Geschwindigkeiten. Auf der einen Seite sind die breiten Durchgangsstraßen, Betonbrücken und Menschenmassen. Auf der anderen Seite finden sich winzige Viertel, schmale Gässchen mit blinden Fassaden und wehenden Fahnen. Sugamo gehörte zur zweiten Sorte. Passan wusste, dass das Viertel als Hochburg der Senioren galt. Hier fand sich alles, was die Millionen Rentner der Region Kanto brauchten.
»Von hier aus gehen wir besser zu Fuß weiter.«
Shigeru wollte bezahlen, aber Passan protestierte. Er beglich die Rechnung, indem er seinen Schwager aus einem hingehaltenen Bündel die entsprechenden Geldscheine aussuchen ließ. In Tokio wurde er immer zum kleinen Jungen, der sich in der Stadt verirrt hatte.
Sie tauchten in ein Gewirr kleiner Gassen ein, begegneten einigen Gestalten im Kimono – jungen Mädchen mit Chapatsu-Haar – und gingen an friedlichen, von Kiefern und Espen umgebenen Tempeln vorbei. Hier schien die Stadt den Atem anzuhalten. Es gab keine Autos, nur wenige Fußgänger, und es war sehr still. Bäume säumten ihren Weg. Die vorherrschenden Farben waren Braun und Grün.
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