Die Wahrheit des Blutes
Hypnotiseur.
»Gut«, drängte Passan, der schon wieder auf die Uhr sah. »Wie ging es weiter?«
»Seit ihrer Jugend quälte ihr Vater sie. Und zwar körperlich.«
Damit hatte Passan nicht gerechnet.
»Der Mann war ein lupenreiner Psychopath«, fuhr Ueda fort. »Ein unmenschlicher Zeitgenosse, dem es Freude machte, andere leiden zu sehen. Vor allem seine kleine Tochter.«
»Und seine Frau?«
»Ist ertrunken. Niemand weiß, was damals passiert ist, aber sicher ist einiges vorstellbar. Ayumis Berichte habe ich nie in Zweifel gezogen. Ihr Vater hat sie wohl jede Nacht gefoltert.«
»Sind sichtbare Narben vorhanden?«
»Ein paar schon, aber Yamada kannte die empfindlichen Stellen innerhalb des Körpers. Er war Gynäkologe, müssen Sie wissen.«
»Abgesehen von Ihrem psychologischen Instinkt – haben Sie Beweise für das, was Sie da behaupten?«, fragte Passan. »Vielleicht war Ayumi als junges Mädchen nur ein wenig verstört und …«
»Der Beweis ist in ihrem Hals.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ayumi war nicht von Geburt an stumm. Ihr Vater hat ihr die Stimmbänder durchgeschnitten, um sie am Schreien zu hindern.«
Passan musste sofort daran denken, wie sie Diego zum Schweigen gebracht hatte. Hätte es noch weiterer Beweise bedurft, wäre diese Verstümmelung so etwas wie die Signatur der Japanerin gewesen.
»Der Schmerz war ihre einzige Orientierung«, fuhr der Psychoanalytiker fort. »Als sie Naoko kennenlernte, haben sich ihre Wertvorstellungen geändert. Ihre Freundin war für sie eine Art neuer Familie, die sich auf Zusammengehörigkeitsgefühl und Sanftheit gründete. Einige Jahre später ging Naoko nach Europa, und Ayumi geriet wieder in die Klauen ihres Vaters. Das schmerzte umso mehr, als sie sich verraten fühlte.«
Passan hatte sich so etwas schon gedacht.
»Und dann?«
»Sie hat durchgehalten. Sie hat die Aufnahmeprüfung der Universität von Tokio geschafft, bekam ein Stipendium und erhielt dadurch eine neue Freiheit. Sie wollte Gynäkologin werden. Auch hier setzte sich das Familienmuster fort. Wegen ihres Handicaps konnte sie zwar ihre Examina ablegen, aber keine Praxis eröffnen. Also hat sie sich für die Forschung entschieden. Jahre später hat Naoko sich wieder bei ihr gemeldet und sie um Hilfe bei ihren Schwierigkeiten gebeten.«
Passan ahnte, wie es weitergegangen war, hatte aber keine Zeit, nach Einzelheiten zu fragen. Vor allem wollte er wissen, welchen Stellenwert seine Frau in dieser verzwickten Geschichte einnahm.
»Hatten sie eine gleichgeschlechtliche Beziehung?«
»Nein. Nur eine sehr innige Verbindung in einem Alter, in dem Freundschaft ausgesprochen wichtig ist.«
»Wusste Naoko von den Übergriffen des Vaters?«
»Ayumi hat immer beteuert, ihr nichts gesagt zu haben. Ich glaube ihr. Ihre Frau hatte keine Ahnung von dieser dunklen Seite in Ayumis Leben. Sie wusste auch nicht, wie schlecht es um ihre seelische Gesundheit stand, sonst hätte sie sie wohl nie um Hilfe gebeten.«
Passan nickte, ging aber sofort wieder zum Angriff über.
»Haben Sie nie daran gedacht, Yamada anzuzeigen?«
»Als Arzt darf ich nicht gegen ihn aussagen. Ich habe es mit einer anonymen Anzeige versucht, was aber nichts bewirkte. In Japan wäscht man seine schmutzige Wäsche zu Hause. Außerdem war Yamada eine Kapazität, die man nicht so einfach eines Vergehens beschuldigt. Sie kennen sicher die Bedeutung der Hierarchie in unserer Gesellschaft. Man hätte Beweise gebraucht.«
»Was ist mit den Narben seiner Tochter?«
»Ich habe mehrmals an die Polizei geschrieben. Ich habe mich auch bemüht, Ayumi zu überzeugen, ihren Vater anzuzeigen, aber sie wollte davon nichts hören. Für einen Westler ist das vielleicht schwierig zu verstehen, aber …«
Passan unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Er hatte keine Lust, sich wieder einmal die typisch japanische Ausrede anzuhören.
»Und Ihr Mordverdacht?«
»Als meine Überzeugung sich festigte, war Yamada bereits seit Wochen tot und längst eingeäschert. Außerdem liegt mir nichts daran, Ayumi auszuliefern, sondern ich möchte sie behandeln. Sie hat offenbar einen herben Rückschlag erlitten.«
»Haben Sie Kontakt mit ihr aufgenommen?«
»Ich habe ihr geschrieben, und zwar mehrfach. Das Resultat war gleich null. In meinem Beruf behandelt man Menschen nicht gegen ihren Willen.«
»Und warum haben Sie sie nicht eingewiesen?«
»So einfach ist das nicht. Ayumi ist immer schon eine wahre Meisterin der Verstellung gewesen. Sie hätte
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