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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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sämtliche Experten an der Nase herumgeführt. Und vergessen Sie nicht ihr Handicap, das natürlich auch der Verschleierung der Wahrheit gedient hätte.«
    »Würden Sie sagen, dass sie eine Psychopathin ist wie ihr Vater?«
    Ueda stand auf und wandte sich dem Fenster zu. Draußen im Garten standen mehrere Laternen, die kleine Lichthöfe um sich verbreiteten. Wie überdimensionale Leuchtkäfer. Das Tropfen des Regens skandierte die verrinnende Zeit. Fünf nach zehn.
    »Durchaus nicht«, sagte er schließlich und verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Ein Psychopath manipuliert. Er ist wie ein Raubtier, das keinerlei menschliche Gefühle empfindet. Ayumi aber ist genau das Gegenteil. Ein leidenschaftliches Wesen, das von seinen Emotionen fast zerrissen wird. Alles, was sie jetzt tut, entspringt einem Zuviel an Herz.«
    »So kann man die Sache natürlich auch sehen.«
    Der Psychiater drehte sich um.
    »Ayumi hat eine Psychose. Als sie mit Ihren Kindern schwanger war, gab sie sich der Illusion hin, eine Familie zu gründen. Und doch ist Naoko jedes Mal mit dem Baby abgereist, denn so lautete der Vertrag. Ayumi war danach am Boden zerstört und zutiefst enttäuscht, und ich musste sie jedes Mal wieder auffangen. Allerdings habe ich ihre Verbitterung unterschätzt, die sich nach und nach in eine Psychose verwandelt hat.«
    Ayumis Schatten schien sich in Überlebensgröße auf den Wänden aus Washi-Papier abzuzeichnen. Er stieg auf wie ein körperloses, schweigendes Reptil, bis sein Kopf die Decke berührte und seine Schultern das ganze Zimmer bedeckten.
    Passan dachte an den verkehrt herum geschlossenen Kimono und die No-Maske. Kein Zweifel, sie stellte ein Wesen des Todes und der Vernichtung dar.
    Er erhob sich. Zwar hätte er dem Arzt gern noch weitere Fragen gestellt, doch dafür blieb keine Zeit mehr.
    »Warum hat sie so viele Jahre gewartet, ehe sie ihren Vater tötete?«, fragte er abschließend.
    »Das sind die Geheimnisse der menschlichen Seele. Ihr Hass ist langsam gereift. Ich habe ihn nicht kommen sehen. Als ihr Arzt habe ich mich in ihr getäuscht.«
    Passan konnte dieser Ansicht nur zustimmen. Aber es stand ihm nicht zu, dem Psychiater Vorhaltungen zu machen. »Selbst ein Affe fällt manchmal vom Baum«, sagten die Japaner.
    Ueda reichte Passan die Fotos, die wild durcheinander auf seinem Schreibtisch lagen.
    »Was befürchten Sie?«
    Passan steckte die Bilder ein und berichtete von seiner Angst. Vom Treffen auf der Insel. Von der Vermutung, dass es ein tödliches Duell geben könne. Eine gnadenlose und blutige Abrechnung. Takeshi Ueda sagte nichts dazu. Sein Schweigen bedeutete Zustimmung.
    Passan wandte sich zum Ausgang. Auch Shigeru stand auf. Er sah aus wie ein Schiedsrichter, der nicht bemerkt hatte, dass das Spiel längst vorüber war.
    »Wissen Sie irgendetwas, das uns helfen könnte?«
    »Ich kann Ihnen lediglich raten, die Polizei zu rufen. Die richtige – also ich meine, unsere.«
    Passan musste unwillkürlich lachen.
    »Wenn ich es täte, würden Sie als Zeuge aussagen?«
    »Sie kennen meine Antwort.«
    »Dann kennen Sie auch meine.«

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    »Ich komme mit.«
    »Was?«
    »Nach Nagasaki. Ich komme mit.«
    »Auf keinen Fall. Das ist eine persönliche Angelegenheit.«
    Zwanzig nach zehn. Im Laufschritt machten sie sich auf die Suche nach einem Taxi. Der Regen war noch stärker geworden. Durch die schmalen Gassen lief das Wasser in kleinen Bächen herab, auf denen scharlachrote Lichter glitzerten. Die Spiegelungen der vor den Häusern aufgehängten Laternen.
    »Naoko ist meine Schwester. Damit betrifft es auch mich.«
    »Wie schon gesagt: Kommt nicht infrage.«
    Passan blieb stehen und blickte seinen Schwager an. Die Sintflut brachte nicht die geringste Abkühlung. Im Gegenteil: Der Wind trieb Tausende lauwarmer Tröpfchen vor sich her, die auf ihren Gesichtern zerplatzten.
    »Diese Reise ist eine große Dummheit«, fügte er leise hinzu. »Und bei uns in Frankreich machen wir unsere Dummheiten lieber allein.«
    Er war sich nicht sicher, ob Shigeru in dem herabprasselnden Regen alles verstanden hatte. Aber bestimmt begriff er seine Absicht. Es gehörte zu dem japanischen Verhaltenskodex, sich dem Gegner allein zu stellen und sich für den anderen zu opfern.
    Passan rannte weiter. Shigeru öffnete seinen Schirm und bemühte sich, ihn einzuholen. Immer noch war kein Taxi in Sicht. Rasch wurde Passan klar, dass er keine Ahnung hatte, wohin er sich wenden sollte. Am Rand eines Baches, der von einer

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