Die Wahrheit des Blutes
an.
Der erste Grund war Ayumi selbst. Ihr Schweigen, ihr Wahnsinn, ihre verdrehte Logik. Mit Sicherheit hatte sie eine Falle vorbereitet, die bei dem Versuch einer Denunziation sofort über Naoko und den Kindern zuschnappen würde.
Der zweite Grund lag in der Natur ihres eigenen Fehlverhaltens. Da Leihmutterschaft sowohl in Japan als auch in Frankreich illegal war, würde sie sich selbst schaden, wenn sie Ayumi anzeigte. Was riskierte sie wohl in einem solchen Fall? Sie wusste es nicht, aber sie würde alles daransetzen, nicht auf der Anklagebank zu landen. Ganz gleich, was geschah – sie würde das Sorgerecht für ihre Kinder niemals aufgeben und um jeden Preis dafür sorgen, dass sie nie erfuhren, wie sie auf die Welt gekommen waren.
Der Lärm der Düsen lenkte sie von ihren Überlegungen ab. Naoko sah aus dem Fenster und blickte auf die Galaxie des riesigen Ballungsraums Tokio hinunter. Wie eine Milchstraße aus Millionen weißer Sterne, über denen goldene Reflexe schimmerten. Die roten Signallichter an den Türmen schienen die Flugzeuge zu warnen: »Der Himmel gehört allen!«
Das Flugzeug gewann an Höhe. Die Stadt erlosch in regnerischer Dunkelheit. Das Bild schien Naoko genau zu ihrer Reise zu passen. Sie wandte dem modernen Japan, diesem Giganten der Ökonomie und Technologie, den Rücken, um in die archaische Düsternis der alten Zeiten zurückzukehren.
Sie fühlte sich ruhig und erleichtert. Endlich war die Zeit der Lügen und der dauernden Zwickmühle beendet. Jahre, in denen sie hatte tun müssen als ob. In denen sie eine Monatsregel vorgetäuscht hatte. In denen sie ein nicht existentes Intimleben vortäuschen musste.
Aber sie kam sich auch lächerlich vor. Als sie die Flugbegleiterin bat, ihre lange Schutzhülle in den für das Begleitpersonal vorgesehenen Aufbewahrungsfächern zu verstauen, hatte sie sich verpflichtet gefühlt, ihr eine Geschichte von einem Kendo-Turnier aufzutischen. Aber was hätte sie auch sonst sagen sollen? Dass das Schwert ein Geschenk ihres Vaters war und sie damit der Frau den Kopf abschlagen wollte, die ihre Kinder ausgetragen hatte? Dass sie ein durch künstliche Befruchtung hervorgerufenes Problem mit der blanken Waffe lösen wollte?
Eigentlich war es wirklich zum Lachen. Zwei verrückte Frauen bereiteten sich darauf vor, auf einer Insel vor Nagasaki gegeneinander zu kämpfen. Die eine hoffte darauf, die andere zu töten und zu begraben, um dann zurückzukehren und sich weiter der Erziehung ihrer Kinder zu widmen, als ob nichts gewesen wäre. Die andere wollte die erste auslöschen, um anschließend Shinji und Hiroki vermutlich ganz legal zu adoptieren. Beide Fälle hätten etwas Groteskes an sich, denn Naoko wäre als Mörderin ungefähr ebenso glaubwürdig wie Ayumi als brave Hausfrau und Mutter.
Doch ganz gleich, wie die Sache ausging – eine Konstante blieb: der Vater. Naoko fand diesen Gedanken sehr tröstlich. Sie war sich ganz sicher, dass Passan inzwischen alles begriffen hatte, aber seine Söhne deswegen nicht weniger liebte. Shinji und Hiroki waren der Sinn seines Lebens. Schon allein deshalb hätte sie mit ihm sprechen und ihm alles erklären müssen, hätte sie ihn um Hilfe anflehen sollen. Was hatte sie daran gehindert? Ihr Stolz. Lieber wollte sie sterben, als ihm ihr ganzes Lügengespinst zu offenbaren.
In Japan gibt es ein Sprichwort: »Die Blumen von gestern sind die Träume von heute.« Sie hätte hinzufügen können: »Die Fehler von gestern sind die Albträume von heute.«
Sie zwang sich, ihren Plan noch einmal zu überdenken. Um zehn Uhr abends würde der Flieger in Nagasaki landen. Taxi zum Hafen. Boot nach Utajima. Sicher würde sie einen Fischer finden, der sie übersetzte. Die Insel war unbewohnt. Schlafen konnte sie im Shintotempel, und im Morgengrauen würde sie dann ihre Klinge schärfen.
Und warten.
Jetzt konnte nichts mehr ihren Plan vereiteln. Außer vielleicht Passan. Wo mochte er sein? Ob er ihre Spur schon gefunden hatte? Bestimmt! Immerhin war er der beste Polizist der Welt.
Sie setzte ihre Schlafmaske auf, und schon bald verschwammen ihre Gedanken. Nur eine Sache blieb klar und deutlich in ihrem Bewusstsein: Die Frau, die ihre Kinder unter dem Herzen getragen hatte, war eine Hexe. Und um Shinji und Hiroki zu befreien, musste die böse Leihmutter sterben.
86
Ayumi Yamada war nicht schön.
Die Fotos, die Frau Akutagawa ein wenig widerwillig herausrückte, zeigten Passan eine junge Frau mit einem niedrig angesetzten Pony
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