Die Wahrheit des Blutes
Hier hatte das alte Edo seine Rechte behalten und ließ den Westler in ein verlorenes Paradies eintauchen. Zumindest empfand Passan es so, während er schweigend seinem Führer folgte. Fast fühlte er sich wie in Yoshiwara, dem früheren Vergnügungsviertel. Sein Bewusstsein schwankte wie in einer Sänfte.
Sie schlängelten sich unter einem dichten Kabelgeflecht hindurch und erreichten noch dunklere Sträßchen. Die Häuser waren hier eingeschossig, Papierlaternen ersetzten die Straßenbeleuchtung. An den Türen hatten die Leute wie jeden Sommer kleine Windglöckchen befestigt, um »die Luft zu erfrischen«. Im strömenden Regen allerdings wirkte das Klingeln der kleinen Schellen etwas bizarr.
Sie erreichten einen engen, von Tempeln gesäumten Platz, wo fliegende Händler in friedlicher Eintracht Talismane, Hühnerspieße, Shinto-Glücksbringer und elektronisches Spielzeug feilboten. In der Mitte des Platzes brannten Räucherstäbchen unter einem Regendach. Passanten fächelten sich den Rauch zu. Gleich daneben fanden rituelle Waschungen in einem Steinbecken statt. Am Tor eines Tempels ließen die Leute eine schwere Bronzeglocke erklingen und klatschten in die Hände, um die Geister zu rufen. Tokio bei Nacht.
»Wir sind da.«
Shigeru klingelte an der Tür eines traditionellen Hauses, dessen Fassade wie ein Shoji aussah: eine Schiebetür mit papierbeklebten Gitterstreben.
»Ueda Takeshi ist nicht mehr der Jüngste«, informierte Shigeru den Polizisten mit einem entschuldigenden Lächeln.
Im selben Augenblick erschien ein winziger Greis in Seemannspullover und grober Tuchhose auf der Schwelle und bat sie vergnügt in einen mit Holzlamellen getäfelten Vorraum. Er lachte nicht, er grölte geradezu, stieß unangebrachte »rrooooo«- und »haaaaa«-Laute aus, schlug sich auf die Schenkel und schüttelte den Kopf.
»Das ist der Gärtner«, erklärte Shigeru leise.
Während sie ihre Schuhe auszogen, trat eine alte Frau zu ihnen, die womöglich noch kleiner war als der Gärtner. Ihre Haut war dunkel und schien versiegelt wie ein Parkett. Sie trug einen reich geschmückten, hellen Kimono mit einem dunkelroten Obi. Ihr Anblick versetzte Passan einen Stich, weil er Naoko nie so angezogen gesehen hatte.
Die Alte wandte sich an Shigeru und redete ihn mit einer eintönigen, rauen Stimme an. Unter ihrem Kimono wirkte sie sehr hinfällig. War die Arbeit in den Reisfeldern schuld? Passan hatte einmal so etwas gehört.
»Herr Ueda empfängt uns«, erklärte Shigeru.
Sie folgten der alten Frau. Schiebetüren glitten zur Seite. Ein schmaler Flur. Drinnen war es noch wärmer als draußen, denn eine Klimaanlage gab es hier nicht. Das Wartezimmer war ein mit Tatamis ausgelegter und mit Kissen dekorierter Raum. Passan versuchte sich in der Seiza-Haltung, bei der man auf den Fersen sitzt und die Hände auf die Oberschenkel legt. Shigeru ließ sich ganz einfach im Schneidersitz nieder und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.
Ein Shoji glitt auf. Wie Shigeru bereits angekündigt hatte, war Takeshi Ueda kein junger Mann mehr, sondern sicher über die siebzig hinaus. Trotzdem hatte er nichts mit den beiden Liliputanern gemein, die sie in Empfang genommen hatten, sondern war im Gegenteil ein wahrer Riese.
Sein Gesicht trug noch zu diesem ungewöhnlichen Eindruck bei. Die wenig geschlitzten Augen lagen unter langen Mädchenwimpern, und zu seinem langen grauen Haar trug er einen dichten Bart nach Art der Ainu, jenem Volk aus dem Norden, vor dem die Japaner einst wegen ihrer in Nippon eher seltenen, starken Behaarung großen Respekt empfunden hatten. In einer Art weißem Baumwollpyjama wirkte er wie ein Mittelding zwischen New-Age-Guru und Rasputin.
Passan und Shigeru erhoben sich. Passan hatte bereits begriffen, dass diese Aufgabe schwieriger würde, als er gedacht hatte.
87
Das Sprechzimmer des Psychiaters war im westlichen Stil eingerichtet: ein Parkett aus schmalen Dielen, europäisches Mobiliar aus den 1930er-Jahren, ein Teppich mit minimalistischen Motiven. Man hätte sich bei einem Analytiker in Saint-Germain-des-Prés glauben können, wäre da nicht das große Fenster gewesen, das auf einen japanischen Garten hinausging. Über allem schwebte ein Duft nach Räucherstäbchen.
Mit einer Geste lud Ueda sie ein, in den Sesseln Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Shigeru begann sofort zu reden. Der Arzt hörte unbeweglich und ohne mit der Wimper zu zucken zu und antwortete in gleichmütigem
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