Die Wahrheit eines Augenblicks
Geschäft florierte. Die Einführungskampagne, die sie für ein neues Produkt einer Kosmetikfirma gestartet hatten, war sogar für einen Marketingpreis nominiert worden.
Tess’ Aufgabenbereich brachte es mit sich, dass sie viel außer Haus war und Will und Felicity oft stundenlang allein im Büro waren. Wenn sie jemand gefragt hätte, ob ihr das denn gar nichts ausmache, hätte sie hellauf gelacht. »Felicity ist wie eine Schwester für Will«, hätte sie gesagt.
Nun wandte sie den Blick vom Whiteboard ab und drehte sich um. Sie fühlte sich wackelig auf den Beinen, ging zurück an den Tisch und setzte sich wieder hin, wählte aber einen Stuhl am anderen Ende des Tisches, weit weg von Will und Felicity. Sie versuchte, sich zu sortieren.
Sie stand in der Mitte ihres Lebens.
Es war sechs Uhr an einem Montagabend. Tess hatte den Kopf gerade voller anderer Dinge gehabt, als Will nach oben gekommen war und erklärt hatte, er und Felicity müssten mit ihr reden. Sie hatte eben mit ihrer Mutter Lucy telefoniert, die angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass sie sich beim Tennisspielen den Knöchel gebrochen hatte und für die nächsten acht Wochen an Krücken gehen müsse. »So leid es mir tut, Liebes, aber kann Ostern dieses Jahr in Sydney statt in Melbourne gefeiert werden?«
Es war das erste Mal in fünfzehn Jahren, seit sie nach Melbourne gezogen waren, dass Tess ein schlechtes Gewissen hatte, nicht näher bei ihrer Mutter zu wohnen.
»Wir nehmen den Flieger gleich nach der Schule am Donnerstag«, hatte Tess gesagt. »Kommst du bis dahin noch klar?«
»Ja, das geht schon. Mary hilft mir. Und die Nachbarn.«
Aber Tante Mary hatte keinen Führerschein, und von Onkel Phil konnte man nicht verlangen, dass er Tess’ Mutter jeden Tag durch die Gegend kutschierte. Alle beide, Mary und Phil, wurden langsam gebrechlich. Und Lucys Nachbarn waren durchweg ältere Damen oder vielbeschäftigte, junge Familien, die kaum Zeit für einen kurzen Gruß hatten, wenn sie in ihren großen Autos aus der Einfahrt fuhren. Es war eher unwahrscheinlich, dass sie Lucy, Mary und Phil dampfende Töpfe voll mit leckerem Essen vorbeibringen würden.
Vor lauter Sorge hatte Tess überlegt, ob sie nicht gleich für den folgenden Tag einen Flug nach Sydney buchen sollte, um vor Ort nach einer Haushaltshilfe für ihre Mutter zu suchen. Eine fremde Person im Haus zu haben würde Lucy zwar gar nicht gefallen, aber wie wollte sie denn beispielsweise duschen, wie kochen?
Es war vertrackt. Sie hatten in der Firma jede Menge zu tun, und Tess wollte Liam auch nicht alleine lassen. Er machte ihr in letzter Zeit Sorgen. In seiner Klasse gab es einen Jungen, Marcus, der ihm schwer zusetzte. Man konnte nicht sagen, dass er Liam mobbte. Das wäre etwas Greifbares gewesen, und sie hätten gemäß dem strengen Leitsatz der Schule »Null Toleranz gegenüber Mobbing« etwas dagegen unternehmen können. Aber Marcus war komplizierter. Er war ein charmanter, kleiner Psychopath.
Und an diesem Tag, da war Tess sich ganz sicher, musste es mit Marcus in der Schule ganz besonders schrecklich gewesen sein. Sie hatte Liam das Abendessen zubereitet, während Will und Felicity unten noch gearbeitet hatten. Sonst aßen Tess, Will und Liam als Familie meist gemeinsam, und oft gesellte sich auch Felicity zu ihnen. Aber die Bedstuff-Webseite musste bis Freitag unbedingt fertig werden, und so legten sie alle Überstunden ein.
Liam war beim Abendessen noch stiller als sonst gewesen. Er war ohnehin ein verträumter, nachdenklicher kleiner Junge, der nicht viel redete. Aber wie er so dasaß, ganz mechanisch jedes Stückchen Wurst mit der Gabel aufspießte und es in die Tomatensoße tunkte, wirkte er beinahe erwachsen und irgendwie traurig.
»Hast du heute mit Marcus gespielt?«, fragte Tess.
»Nö«, sagte Liam. »Heute ist Montag.«
»Und das heißt?«
Aber er antwortete nicht. Er machte dicht, weigerte sich, noch einen einzigen Ton von sich zu geben, und Tess spürte, wie Wut in ihr hochstieg. Sie musste noch einmal mit seinem Lehrer sprechen. Sie hatte das starke Gefühl, dass ihr Kind litt und niemand es sah. Der Schulhof war wie ein Schlachtfeld.
Und das waren Tess’ Gedanken, als Will zu ihr gekommen war und sie gebeten hatte, doch einmal nach unten zu kommen: der Knöchel ihrer Mutter und Marcus, der Liam terrorisierte.
Will und Felicity saßen am Besprechungstisch und erwarteten sie. Bevor Tess sich zu ihnen setzte, räumte sie noch rasch sämtliche Kaffeetassen
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