Die Wahrheit eines Augenblicks
anständige Menschen sie doch waren, wie sehr sie doch litten bei dem Gedanken daran, Tess verletzen zu müssen, aber was hatten sie für eine andere Wahl angesichts ihrer Leidenschaft, ihrer Liebe ?
»Es ist noch zu früh, um darüber zu reden, wie es jetzt mit uns weitergehen soll.« Felicitys Stimme klang plötzlich sehr viel fester.
Tess grub die Fingernägel in ihre Handflächen. Was fiel ihr eigentlich ein! Wie konnte sie wagen, in einem so alltäglichen Ton mit ihr zu sprechen, als wäre dies eine ganz normale Situation, ein ganz normales Problem?!
»Was? Was habt ihr euch gefragt?« Tess’ Augen ruhten auf Will.
Vergiss Felicity! , sagte sie sich. Du kannst dich jetzt nicht mit deinem Zorn auf sie aufhalten. Denk gut nach, Tess, denk gut nach !
Wills Gesichtsfarbe wechselte von Weiß zu Rot. »Wir haben uns gefragt, ob es nicht möglich wäre, dass wir alle zusammenwohnen. Hier. Liam zuliebe. Es ist ja nicht Schluss im gewöhnlichen Sinne. Wir sind ja … eine Familie. Und deshalb haben wir gedacht … ich meine, vielleicht klingt das ja verrückt, aber wir haben gedacht, dass es unter Umständen möglich wäre. Letztendlich.«
Tess brach in schallendes Gelächter aus. In ein hartes, fast kehliges Gelächter. Ja, waren die beiden denn komplett verrückt geworden? »Ihr meint, ich ziehe einfach aus dem Schlafzimmer aus, und Felicity zieht ein? Und Liam sagen wir: ›Mach dir keine Sorgen, Liebling, Daddy schläft jetzt mit Felicity, und Mummy zieht ins Gästezimmer.‹ Habt ihr euch das so vorgestellt?«
Felicity blickte beschämt vor sich hin. »Natürlich nicht.«
»Wenn du das so formulierst …«, hob Will an.
»Wie soll ich es denn sonst formulieren?«
Er atmete hörbar aus und beugte sich vor. »Sieh mal, wir müssen jetzt nicht gleich alles auf einmal regeln.« Will schlug im Büro manchmal einen besonders maskulinen und autoritären Ton an, wenn er wollte, dass die Dinge gefälligst so und nicht anders gehalten wurden. Tess und Felicity hatten ihm deshalb schon öfter ordentlich eingeheizt. Und in diesem Ton sprach er auch jetzt, als wäre es an der Zeit, dass er die Dinge unter Kontrolle bekam.
Was bildete er sich bloß ein !
Tess schlug mit geballten Fäusten auf den Tisch, so fest, dass er wackelte. Das war eine Premiere für sie. Es fühlte sich absurd an, aber irgendwie prickelnd. Und sie freute sich zu sehen, wie Will und Felicity zusammenzuckten.
»Ich werde euch sagen, was als Nächstes passiert«, erwiderte sie, denn auf einmal war alles sonnenklar.
Es war ganz einfach.
Will und Felicity mussten ihre Affäre ausleben. Je eher, desto besser. Was da zwischen ihnen schwelte, musste seinen Gang gehen. Es war süß und verlockend. Sie waren zwei darbende Liebende, Romeo und Julia, die sich über den lila Hustenstopper-Drachen hinweg sehnsuchtsvolle Blicke zuwarfen. Die Liebe musste gelebt werden, musste hitzig werden, klebrig und schmutzig, bis sie schließlich – hoffentlich und so Gott will – banal und langweilig werden würde. Will liebte seinen Sohn, und hatte sich der Nebel der Lust erst einmal gelichtet, würde er erkennen, dass er einen schrecklichen, aber keinen irreparablen Fehler begangen hatte.
Man könnte ihre Ehe noch retten …
Das Beste, was Tess im Augenblick tun konnte, war also zu gehen. Jetzt sofort.
»Liam und ich werden nach Sydney fliegen«, sagte sie. »Zu Mum. Sie hat eben angerufen, um mir zu erzählen, dass sie sich den Knöchel gebrochen hat. Sie braucht jemanden, der ihr hilft.«
»Oh, nein! Geht es ihr so weit gut?«, fragte Felicity.
Tess ignorierte sie. Die Rolle der besorgten Nichte konnte sie sich abschminken. Felicity war nun die »andere Frau«. Und sie, Tess, war die Ehefrau. Und für diese Position würde sie kämpfen. Liam zuliebe. Sie würde kämpfen und siegen.
»Wir bleiben bei ihr, bis sie wieder gesund ist.«
»Aber Tess, du kannst nicht mit Liam nach Sydney ziehen.« Wills herrischer Ton war verschwunden. Er war mit Melbourne fest verwachsen. Dass sie je woanders wohnen könnten, hatte niemals zur Debatte gestanden.
Er sah Tess gekränkt an, so wie Liam es tat, wenn er zu Unrecht gescholten wurde. Dann glättete sich seine Stirn. »Und was ist mit der Schule?«, fragte er. »Es geht nicht, dass du Liam aus der Schule nimmst.«
»Er kann für eine Weile die St.-Angela-Schule besuchen. Er muss sowieso von Marcus getrennt werden. Der Tapetenwechsel wird ihm guttun. In Sydney kann Liam zu Fuß zur Schule gehen, wie ich
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