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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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für einen widerlichen Tyrannen.
    Als sie dann begonnen hatten, ernsthaft über eine gemeinsame Geschäftsidee nachzudenken, fügten sich die Ideen wie selbstverständlich ineinander. Klick, klick, klick! Und beim letzten Bissen Baiserkuchen war alles geritzt gewesen. Will wäre der Kreativdirektor! Ganz klar! Felicity wäre verantwortlich für Grafik und Konzeption! Ganz klar! Und Tess wäre Kundenbetreuerin! Weniger klar … Eine solche Position hatte sie noch nie innegehabt. Sie stand sonst immer auf der anderen Seite, auf der des Kunden, und sah sich selbst als eher introvertiert.
    Vor ein paar Wochen hatte sie im Wartezimmer eines Arztes sogar einen Test-Fragebogen in einer Zeitschrift ausgefüllt, der die Überschrift trug: »Leiden Sie an sozialen Angststörungen?« Und ihre Antworten (bei jeder Frage hatte sie C angekreuzt) bestätigten, dass sie tatsächlich an einer sozialen Phobie litt und sich professionelle Hilfe holen oder einer »Selbsthilfegruppe« anschließen sollte. Aber wahrscheinlich fiel der Test bei jedem, der ihn machte, gleich aus. Denn wer nicht ohnehin den Verdacht hatte, möglicherweise kontaktscheu zu sein, würde den Test wahrscheinlich gar nicht machen, sondern lieber stattdessen ganz unbefangen und lebhaft mit der Sprechstundenhilfe plaudern.
    Sie, Tess, würde sich bestimmt keine professionelle Hilfe holen und auch mit keiner Menschenseele über ihre Scheu sprechen. Nicht einmal mit Felicity. Denn wenn sie darüber redete, wäre die Sache plötzlich ein echtes Thema. Will und Felicity würden sie in jeder Situation genau beobachten und bei jedem demütigenden Beweis für ihre soziale Scheu mit ihr mitfühlen. Es kam also darauf an, sie zu überspielen . Als sie noch ein Kind gewesen war, hatte ihre Mutter ihr einmal gesagt, ihre Scheu sei eine Art übertriebene Selbstbezogenheit. »Schau mal, mein Liebling, wenn du den Kopf immer hängen lässt so wie jetzt, dann denken die Leute, du magst sie nicht!« Das hatte sich Tess zu Herzen genommen. Sie wurde älter und lernte, Smalltalk zu halten. Auch wenn ihr vor Angst das Herz pochte, zwang sie sich, mit ihrem Gegenüber Blickkontakt zu halten, obwohl ihre Nerven das kaum mitmachten und sie am liebsten wegsehen wollte. Wegsehen ! »Ein bisschen erkältet!«, sagte sie zum Beispiel, um die Trockenheit in ihrer Kehle und die spröde Stimme zu erklären. Tess lernte, damit zu leben. So wie andere Leute lernten, mit einer Laktose-Intoleranz oder einer empfindlichen Haut zu leben.
    Sie hatte nicht viel auf jenen Weihnachtsabend gegeben, hatte diese Pläne, sich selbstständig zu machen, nur für eine Spinnerei gehalten. Und außerdem hatten sie jede Menge von Tante Marys Punch intus gehabt. Sie würden nicht wirklich eine Firma zusammen gründen. Sie würde nicht wirklich als Kundenbetreuerin arbeiten müssen.
    Doch zurück in Melbourne, verfolgten Will und Felicity die Idee weiter. In Wills und Tess’ Haus gab es im unteren Stockwerk einen riesigen Bereich, den die Vorbesitzer als Rückzugsort für ihre heranwachsenden Kinder eingerichtet hatten und der über einen eigenen Eingang verfügte. Was hatten sie zu verlieren? Die Anlaufkosten wären vernachlässigbar. Will und Tessa hatten kurzerhand ihre Hypothek aufgestockt. Felicity teilte sich ihre Wohnung mit einer Freundin. Scheiterten sie, könnten sie alle wieder in ihre alten Berufe zurückkehren.
    Tess ließ sich von der Begeisterung der beiden mitreißen. Sie war heilfroh, ihren Job endlich kündigen zu können. Aber als sie dann das erste Mal im Büro eines potenziellen Kunden saß, musste sie sich die Hände zwischen die Knie klemmen, um das Zittern zu verbergen. Sie spürte, wie ihr Kopf vor lauter Nervosität zu wackeln begann. Und auch heute noch, achtzehn Monate später, bekam sie vor jedem Gespräch mit einem neuen Kunden Nervenflattern. Dabei war sie auf ihrem Gebiet äußerst erfolgreich. »Sie sind anders als die Vertreter anderer Agenturen«, hatte ein Kunde nach dem ersten Treffen einmal zu ihr gesagt, als er ihr die Hand gab, um das Geschäft zu besiegeln. »Sie reden weniger und hören dafür viel genauer zu.«
    Noch immer beruhigten sich ihre Nerven erst, wenn sie mit einem Gefühl wunderbarer Euphorie aus dem Gespräch ging. Dann schwebte sie wie auf Wolken. Sie hatte es wieder einmal geschafft! Wieder einmal hatte sie gegen das innere Monster gekämpft und es besiegt! Und das Beste war, dass niemand etwas von ihrem Geheimnis ahnte. Sie akquirierte die Kunden. Das

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