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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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weg, die überall im Büro herumstanden. Felicity hatte die Angewohnheit, sich ständig einen frischen Kaffee aufzubrühen, die halb volle Tasse dann aber irgendwo stehen zu lassen. Tess stellte die Tassen nebeneinander auf den Tisch und setzte sich. »Neuer Rekord, Lissy. Fünf halb ausgetrunkene Tassen.«
    Felicity sagte nichts. Sie sah Tess nur seltsam mitfühlend an. Und dann machte Will diese ungeheuerliche Eröffnung:
    »Tess, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll … Aber Felicity und ich haben uns ineinander verliebt.«
    »Sehr lustig.« Tess hatte die Kaffeetassen zusammengeschoben und lächelte. »Saulustig.«
    Doch es schien kein Witz zu sein.
    Sie legte die Hände flach auf die honiggoldene Tischplatte und starrte darauf. Blasse, blau geäderte, knochige Hände. Einer ihrer Exfreunde, sie wusste nicht mehr genau, welcher, hatte ihr einmal gesagt, er sei verliebt in ihre Hände. Und Will hatte richtig Mühe gehabt, ihr bei der Hochzeit den Trauring über den Fingerknöchel zu streifen. Die Gäste hatten schon leise zu lachen begonnen, und als es ihm endlich gelungen war, hatte Will einen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen und ihr dabei sanft über die Hand gestreichelt.
    Tess schaute auf und sah, wie Will und Felicity verstohlene, besorgte Blicke wechselten.
    »Es ist also die wahre Liebe?«, sagte Tess. »Ihr seid Seelenverwandte , ja?«
    Wills rechte Wange fing zu pochen an. Felicity zupfte an ihren Haaren.
    Ja. Das war es, was beide dachten. Ja, es ist wahre Liebe. Ja, wir sind Seelenverwandte.
    »Wann genau hat es angefangen? Wann haben sich diese ›Gefühle‹ zwischen euch entwickelt?«
    »Spielt keine Rolle«, sagte Will eilig.
    »Für mich schon!« Tess’ Stimme schwoll an.
    »Ich weiß nicht recht, vielleicht so vor sechs Monaten«, murmelte Felicity und sah dabei auf den Kiefernholztisch vor sich.
    »Also, als du gerade begonnen hattest abzunehmen«, bemerkte Tess.
    Felicity zuckte mit den Schultern.
    »Komisch, dass du sie nie angesehen hast, als sie noch fett war, Will«, sagte Tess.
    Die bittere Schärfe purer Gehässigkeit stieß aus ihrem Mund. Derart boshaft war sie zuletzt zu Teenager-Zeiten gewesen.
    Sie hatte Felicity noch nie als »fett« bezeichnet, nie ein kritisches Wort über ihr Gewicht verloren.
    »Tess, bitte …«, sagte Will ohne einen tadelnden Ton in der Stimme. Seine Worte klangen eher wie eine sanfte, verzweifelte Bitte.
    »Schon gut«, meinte Felicity. »Geschieht mir recht. Geschieht uns beiden recht.« Sie hob das Kinn und sah ihre Cousine tapfer und ergeben an.
    Tess stand es frei, die beiden zu beißen und zu kratzen, so viel sie wollte. Sie hätten es wehrlos über sich ergehen lassen. Will und Felicity waren zwei grundgute Menschen. Aus diesem Grund hatten sie auch Verständnis für Tess’ Wut, sie sahen ihre eigene Schuld ein, sodass am Ende Tess als die Böse dastand – und nicht sie. Sie hatten nicht miteinander geschlafen; sie hatten Tess also nicht wirklich betrogen. Sie hatten sich ineinander verliebt ! Es war keine gewöhnliche, schmutzige, kleine Affäre. Es war Schicksal. Vorherbestimmt. Niemand konnte ihnen das übelnehmen.
    Genial.
    »Warum hast du mir das nicht unter vier Augen gesagt?« Tess versuchte, Will mit Blicken zu fixieren, als könnte sie ihn so zurückholen. Seine auffallend goldbraunen Augen mit den dichten, schwarzen Wimpern – so ganz anders als ihre eigenen wasserblauen Augen – sahen sie flehend an. Ihr Sohn hatte diese Augen von ihm geerbt. Tess war es jetzt, als gehörten sie ihr allein, als wären sie ihr geliebtes Eigentum, für das sie nur allzu gern Komplimente annahm: »Ihr Sohn hat aber schöne Augen!« – »Ja, die hat er von meinem Mann. Hat nichts mit mir zu tun.« Dabei hatte alles mit ihr zu tun. Mit ihr allein. Es waren ihre Augen. In Wills goldbraunen Augen stand normalerweise ein Lachen, mit dem er der Welt entgegenstrahlte. Ihm gelang es stets, dem Alltagsleben etwas Lustiges abzugewinnen, was eine der Eigenschaften war, die Tess so sehr an ihm liebte. Doch jetzt sahen diese Augen sie bittend an. Sein Blick erinnerte an den seines Sohnes, wenn Liam im Supermarkt unbedingt etwas haben wollte:
    Bitte, Mum, kauf mir diese Zuckerstange (samt Konservierungsstoffen)! Ja, ich weiß, ich habe versprochen, nicht mehr zu betteln, aber kauf mir nur noch die !
    Bitte Tess, ich will deine zuckersüße Cousine – und, ja, ich weiß, ich habe versprochen, dir treu zu sein, in guten wie in schlechten Zeiten, in

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