Die Wahrheit eines Augenblicks
Gesundheit und in Krankheit, aber bitte, bitte, bitte!
Nein. Du kriegst sie nicht. Ich habe Nein gesagt.
»Wir konnten noch nicht den richtigen Zeitpunkt finden«, murmelte Will. »Und wir wollten es dir beide gemeinsam sagen. Wir konnten nicht … Wir dachten nur, dass wir nicht länger so weitermachen können, ohne dass du davon weißt … und so haben wir einfach …« Er schob den Unterkiefer vor und zurück wie ein Truthahn. »Wir dachten, den richtigen Zeitpunkt für so ein Gespräch gibt es sowieso nicht.«
Wir. Es gab also ein »wir« und ein »ich«. Sie hatten darüber gesprochen. Ohne sie. Nun, natürlich ohne sie. Sie hatten sich schließlich auch ohne sie »ineinander verliebt«.
»Ich dachte, ich sollte dabei sein, wenn er es dir sagt«, meinte Felicity.
»Ach, dachtest du?« Tess konnte es nicht ertragen, Felicity in die Augen zu sehen. »Und was passiert als Nächstes?«
Mit dieser Frage stieg eine neue Welle von Übelkeit in ihr auf. Sie konnte das alles nicht glauben. Nichts würde passieren, ganz bestimmt. Und ganz bestimmt würde Felicity gleich in ihren neuen Fitnesskurs eilen; Will würde nach oben in die Wohnung kommen und mit Liam plaudern, während der in der Badewanne saß. Vielleicht würde Will sogar dem Marcus-Problem auf den Grund kommen. Tess würde derweil eine schnelle Pfanne zum Abendessen zubereiten; die Zutaten dafür waren küchenfertig vorhanden. Es erschien ihr geradezu grotesk, an die kleine, in Plastikfolie verpackte Schale mit Hähnchenstreifen zu denken, die seelenruhig im Kühlschrank stand. Bestimmt würden Will und sie nach dem Essen noch ein Glas Wein aus der geöffneten Flasche trinken, sich Dexter im Fernsehen anschauen und später dann über potenzielle Männer für die kürzlich erschlankte Felicity reden. Sie hatten sich schon so viele Konstellationen ausgemalt. Felicity und ihr italienischer Bankdirektor. Der große, ruhige Typ, der die Feinkost-Marmeladen lieferte. Aber niemals hätte sich Will an die Stirn gefasst und gesagt: »Ich hab’s! Wie hatte ich das nur übersehen können? Ich wäre der perfekte Mann für sie!«
Ja, es war ein Witz. Tess konnte nicht aufhören, das Ganze für einen schrecklichen Witz zu halten.
»Wir wissen, nichts kann es leichter, richtiger oder besser machen«, sagte Will. »Aber wir werden tun, was immer du willst, was immer du denkst, das für dich und für Liam richtig ist.«
»Für Liam …«, wiederholte Tess wie vor den Kopf geschlagen.
Aus irgendeinem Grund hatte sie gar nicht daran gedacht, dass sie es auch Liam sagen mussten, dass Liam in irgendeiner Form damit zu tun haben oder davon betroffen sein würde. Liam, der in diesem Augenblick oben auf dem Bauch vor dem Fernseher lag, den kleinen, sechsjährigen Kopf voll mit riesengroßen Sorgen wegen Marcus.
Nein , dachte sie. Nein. Nein. Nein. Auf gar keinen Fall.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie wieder ihre Mutter an der Tür zu ihrem eigenen Kinderzimmer stehen. »Daddy und ich wollen dir etwas sagen.«
Das sollte Liam nicht passieren! Nicht so. Nur über ihre Leiche. Das war das Einzige, was sie ihm immer hatte ersparen wollen. Und sie würde dafür sorgen, dass er es nicht erleben musste. Ihr hübscher kleiner Junge mit dem ernsten Gesicht sollte nicht den Verlust und die Verwirrung erfahren, die sie selbst in jenem schrecklichen Sommer vor so langer Zeit gespürt hatte. Er sollte nicht an jedem zweiten Freitag eine kleine Wochenendtasche packen und in einen Kalender am Kühlschrank schauen müssen, um herauszufinden, wo er am Wochenende schlafen würde. Er sollte nicht lernen, geschickt zu lavieren, wenn der eine Elternteil sich mit einer scheinbar harmlosen Frage über den anderen erkundigte.
Tess’ Gedanken rasten.
Es ging ihr jetzt allein um Liam. Ihre eigenen Gefühle waren unwichtig. Wie war das alles noch zu retten? Wie konnte sie es aufhalten?
»Nie wollten wir, dass das passiert.« Will sah sie mit großen, unschuldsvollen Augen an. »Und wir wollen das Ganze anständig über die Bühne bringen. Das ist das Beste für uns alle. Wir haben uns auch gefragt …«
Tess sah, dass Felicity einen raschen Blick mit Will tauschte und leicht mit dem Kopf schüttelte.
»Was? Was habt ihr euch gefragt?«, hakte sie nach. Hier war also ein weiterer Beweis dafür, dass die beiden oft darüber gesprochen hatten. Sie konnte sich die Intensität dieser Gespräche lebhaft vorstellen. Gespräche, die begleitet waren von feuchten Augen, die bewiesen, welch
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