Die Wahrheit eines Augenblicks
Gesicht in ihre Halsbeuge. Sein kleiner Körper war warm und schwer. Sie drückte ihm einen leichten Kuss auf die seidenzarte Wange.
»Ich frage mich, ob …« Sie biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Lippen, denn eigentlich hatte sie sagen wollen: »… ob der Osterhase schon da gewesen ist.« Aber dann würde Jacob sofort aus dem Bett stürmen und wie ein geölter Blitz durch das ganze Haus rennen, um Eier zu suchen, und Rob und Lauren aufwecken. Und Rachel wäre der lästige Übernachtungsgast und die böse Schwiegermutter, die das Kind daran erinnert hatte, dass heute Ostern war.
»Ich frage mich, ob wir noch ein bisschen weiterschlafen können«, sagte sie stattdessen, was sie allerdings für höchst unwahrscheinlich hielt.
»Nööö«, krähte er. Rachel spürte, wie seine Wimpern sie leicht am Hals kitzelten.
»Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich vermissen werde, wenn du in New York bist?«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Was er natürlich nicht begreifen konnte. Er ignorierte die Frage und kuschelte sich ein.
»Grandma«, sagte er fröhlich.
»Aua«, entfuhr es ihr, als sein Knie in ihren Bauch stieß.
Der Regen wurde stärker, und im Zimmer wurde es merklich kälter. Sie zog die Decke fester um ihre Körper, drückte Jacob eng an sich und sang ihm ins Ohr: »Es regnet, es regnet, die Erde wird nass …«
»Noch mal!«, quengelte er.
Sie sang das Lied noch einmal.
Die kleine Polly Fitzpatrick wachte an diesem Morgen mit einem Körper auf, der nie wieder derselbe sein würde. Und das hatte sie ihr, Rachel, zu verdanken. Für John-Paul und Cecilia unfassbar. Der Schock würde sie über Monate begleiten, bevor sie schließlich begreifen würden, so wie einst Rachel, dass unvorstellbare Dinge passieren, dass die Welt sich weiterdreht, dass die Leute sich nach wie vor stundenlang über das Wetter unterhalten, dass es nach wie vor Verkehrsstaus und Stromrechnungen gibt, Promiskandale und Staatsstreiche.
Irgendwann, wenn Polly wieder zu Hause war, würde sie, Rachel, John-Paul zu sich nach Hause einladen, damit er ihr von Janies letzten Momenten erzählte. Sie hatte alles genau vor Augen. Sein angespanntes, angsterfülltes Gesicht, wenn er bei ihr vor der Tür stand. Sie würde dem Mörder ihrer Tochter eine Tasse Tee anbieten, und er würde bei ihr am Küchentisch sitzen und erzählen.
Sie würde ihm keine Absolution erteilen, aber sie würde ihm einen Tee aufbrühen. Sie würde ihm nie verzeihen. Und vielleicht würde sie ihn auch nie anzeigen oder von ihm verlangen, dass er sich stellte. Wenn er dann gegangen sein würde, würde sie auf ihrem Sofa sitzen, sich vor Schmerzen wiegen, wehklagen und schreien. Ein letztes Mal. Sie würde nie aufhören, um Janie zu trauern, aber es wäre das letzte Mal, dass sie so weinen würde.
Dann würde sie sich einen frischen Tee aufgießen und eine Entscheidung treffen. Eine endgültige Entscheidung darüber, was getan werden müsste, welcher Preis zu bezahlen wäre oder ob er möglicherweise schon bezahlt war.
Es regnet, es regnet, die Erde wird nass …
Jacob war eingeschlafen. Sie hievte ihn vorsichtig von ihrem Körper und schob ihn ein wenig zur Seite, sodass sein Kopf noch mit auf ihrem Kissen lag.
Am Dienstag würde sie Trudy mitteilen, dass sie ihren Job als Schulsekretärin kündigen wollte. Sie konnte nicht mehr zurück an die Schule, wo sie jederzeit damit rechnen musste, die kleine Polly Fitzpatrick zu sehen oder ihren Vater. Unmöglich. Es war Zeit, das Haus zu verkaufen, die Erinnerungen und den Schmerz loszulassen.
Ihre Gedanken schweiften zu Connor Whitby. Hatte es einen Moment gegeben, da sich ihre Blicke gekreuzt hatten, als er auf die Straße getreten war? Einen Moment, in dem er ihre mörderische Absicht erkannt hatte und um sein Leben gerannt war? Oder bildete sie sich das bloß ein? Er war der Junge, den Janie sich ausgesucht und John-Paul Fitzpatrick vorgezogen hatte. Du hast dir den Falschen ausgesucht, mein Liebling . Hätte sie John-Paul gewählt, würde sie heute noch leben.
Sie fragte sich, ob Janie ehrlich in Connor Whitby verliebt gewesen war. War Connor der Schwiegersohn, den Rachel haben sollte in dieser parallelen Welt, die für immer eine Fantasie bleiben würde? Und war sie dem Andenken Janies nicht schuldig, irgendetwas Liebes für Connor zu tun? Ihn zum Abendessen einzuladen? Rachel schauderte bei dem Gedanken. Auf gar keinen Fall. Sie konnte ihre Gefühle nicht abdrehen wie einen Wasserhahn. Sie hatte noch immer
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