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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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sein Gesicht vor Augen, das Bild aus diesem Video, und Janie, wie sie vor ihm zurückwich. Ihr Verstand begriff jetzt erst, dass der vermeintliche Beweis nichts weiter zeigte als einen ganz normalen Jungen, der verzweifelt eine klare Antwort wollte von dem Mädchen, das er liebte. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie ihm verzieh.
    Obwohl …
    Sie dachte daran, wie Connor Janie in diesem Video angelächelt hatte, bevor er dann die Beherrschung verloren hatte. Sie sah sein aufrichtig gequältes Lächeln. Und sie musste an das Foto in Janies Album denken, an das, auf dem Connor so verliebt lachte über eine Bemerkung, die Janie offenbar gerade gemacht hatte.
    Vielleicht würde sie Connor eines Tages einen Abzug des Fotos schicken und eine Karte dazulegen: Dachte, Sie würden es vielleicht haben wollen . Das wäre eine dezente Entschuldigung für ihr Verhalten, das sie all die Jahre ihm gegenüber an den Tag gelegt hatte. Und, ach ja, es wäre auch eine dezente Entschuldigung dafür, dass sie ihn hatte töten wollen. Nicht zu vergessen. Sie lag im Dunkeln, verzog ihr Gesicht zu einem Lächeln, drehte den Kopf und drückte Jacob einen kleinen, tröstlichen Kuss auf die Stirn.
    Morgen gehe ich zur Post und beantrage einen Reisepass , dachte sie im Stillen. Und, ja, vielleicht unternehme ich eine von diesen dämlichen Alaska-Kreuzfahrten. Marla und Harry können ja mitkommen. Ihnen macht die Kälte nichts aus.
    Geh wieder schlafen, Mum! , sagte Janie. Für einen kurzen Augenblick konnte Rachel sie ganz klar vor sich sehen. Die Frau, die sie heute wäre, so selbstsicher und so zufrieden mit ihrem Platz in der Welt, so renitent und so liebevoll, so herablassend und so ungeduldig mit ihrer lieben alten Mutter, der sie nun half, den ersten Reisepass ihres Lebens zu beantragen.
    Ich kann nicht schlafen , sagte Rachel.
    Doch, du kannst , entgegnete Janie.
    Und Rachel schlief ein.

59
    Der offizielle Abriss der Berliner Mauer ging ebenso gründlich vonstatten wie ihr Aufbau. Am 22. Juni 1990 wurde der Checkpoint Charlie, Berlins bekanntestes Symbol des Kalten Krieges, in einer seltsam anmutenden, staatstragenden Feier abgerissen. Unter den Augen von Außenministern und anderen Würdenträgern, die man ringsum auf Plastikstühlen platziert hatte, wurde die berühmte beigebraune Kontrollbaracke aus Leichtmetall von einem Kran an einem Stück hochgehoben.
    Am gleichen Tag, auf der anderen Seite der Welt, war Cecilia Bell mit ihrer Freundin Sarah Sacks soeben von ihrer Europareise zurückgekehrt und mehr als bereit für einen festen Freund und ein anständig strukturiertes Leben. Sie ging auf eine Einweihungsparty in eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Lane Cove, die proppevoll war mit Partygästen.
    »John-Paul Fitzpatrick kennst du wahrscheinlich schon, Cecilia, ja?«, rief ihr die Gastgeberin über die krachend laute Musik hinweg zu.
    »Hi«, sagte John-Paul. Cecilia nahm seine Hand, sah in seine ernsten Augen und lächelte, als hätte man soeben auch ihrem Freiheitsgesuch stattgegeben .
    »Mummy.«
    Cecilia wachte auf dem Stuhl neben Pollys Bett auf. Sie keuchte wie wild, als drohte sie zu ertrinken. Ihr Mund fühlte sich trocken an. Sie musste eingeschlafen sein. Der Kopf war wohl in den Nacken zurückgekippt, und der Mund hatte offen gestanden. John-Paul war nach Hause gegangen, um bei den Mädchen zu sein und frische Kleider mitzubringen. Am späteren Vormittag, wenn Cecilia ihm grünes Licht gab, würde er Isabel und Esther mitbringen.
    »Polly«, sagte sie verzweifelt. Sie hatte von dem Spiderman-Jungen geträumt. Nur war der kleine Spiderman diesmal Polly.
    »Versuchen Sie, auf Ihre Körpersprache zu achten!«, hatte die Sozialarbeiterin ihr am Vorabend gesagt. »Die können Kinder besser lesen, als man meint. Und achten Sie auf Ihren Ton. Auf Ihre Mimik. Auf Ihre Gesten.«
    Ja, danke schön, ich weiß, was Körpersprache ist , hatte Cecilia bei sich gedacht. Die Sozialarbeiterin hatte ihre Haare nach hinten gebunden und eine übergroße Sonnebrille getragen, als wäre sie auf dem Weg zu einer Strandparty und nicht in ein Krankenhaus um sechs Uhr abends, um mit Eltern zu sprechen, die gerade mitten im schlimmsten Albtraum ihres Lebens gefangen waren. Cecilia konnte ihr diese flippige, beschissene Sonnenbrille nicht verzeihen.
    Zumal sie nicht zu wissen schien, dass Karfreitag der wohl schlimmste Tag war für ein solch traumatisches Leid, das dem eigenen Kind widerfuhr. Der Großteil der Stammbelegschaft befand sich in den

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