Die Wahrheit eines Augenblicks
ausgerechnet jetzt?«
Sie nahm die Hände vom Gesicht und schaute ihn an. Im Flüsterton antwortete sie ihm: »Weil sie dachte, dass Connor Whitby Janie getötet hat. Sie hat versucht, Connor totzufahren.«
Sie konnte in John-Pauls Gesicht lesen, wie seine Gedanken von A nach B wanderten und schließlich zu C, der Verantwortlichkeit für seine grauenvolle Tat.
Er presste eine Faust vor den Mund. »Scheiße«, wisperte er und begann, sich vor und zurück zu wiegen wie ein autistisches Kind.
»Es ist alles meine Schuld«, murmelte er in seine Hand hinein. »Ich habe all das verursacht. Oh, mein Gott, Cecilia! Ich hätte ein Geständnis ablegen sollen. Ich hätte es Rachel Crowley sagen müssen.«
»Hör auf!«, zischte Cecilia ihn an. »Sie könnte dich hören.«
John-Paul stand auf und ging auf die Tür des Krankenzimmers zu. Dann drehte er sich um, betrachtete Polly, die pure Verzweiflung im Gesicht. Er wandte sich ab und zupfte hilflos an seinem Hemd herum. Plötzlich sank er in die Knie, den Kopf tief gesenkt, die Hände im Nacken verschränkt.
Cecilia sah ihn mit unbewegter Miene an. Sie erinnerte sich daran, wie er am Karfreitagmorgen geschluchzt hatte. Der Schmerz und die Reue, die er verspürte für das, was er der Tochter eines anderen Mannes angetan hatte, war nichts im Vergleich zu dem Leid, das er wegen seiner eigenen Tochter empfand.
Sie sah weg und richtete den Blick wieder auf Polly. Man konnte nach Kräften versuchen, sich die Schicksalsschläge im Leben anderer Menschen vorzustellen: das Ertrinken in eiskaltem Wasser; das Leben in einer Stadt, die geteilt ist durch eine Mauer. Aber nichts tut wirklich weh, bis man selbst – das eigene Kind – von einem solchen Schicksalsschlag getroffen wird.
»Steh auf, John-Paul!«, sagte sie, ohne ihn dabei anzusehen. Ihre Augen ruhten auf Polly.
Sie dachte an Isabel und Esther, die daheim bei ihren Großeltern waren. Geschwister werden immer vernachlässigt, wenn die Tragödie eine Familie ereilt. Sie, Cecilia, musste einen Weg finden, in dieser schweren Zeit allen drei Töchtern eine gute Mutter zu sein. Weniger soziales Engagement. Weniger Tupper-Partys. Auf das zusätzliche Geld konnten sie verzichten. Sie drehte sich um. John-Paul kauerte noch immer am Boden, als ginge er vor einer Bombenexplosion in Deckung.
»Steh auf!«, sagte sie noch einmal. »Du kannst dich nicht hängen lassen. Polly braucht dich. Wir alle brauchen dich.«
John-Paul nahm die Hände aus dem Nacken und schaute mit blutunterlaufenen Augen zu ihr hoch. »Aber ich werde nicht für euch da sein können«, sagte er. »Rachel wird zur Polizei gehen.«
»Kann sein«, antwortete Cecilia. »Kann sein, dass sie das tut. Doch ich glaube es eigentlich nicht. Ich glaube nicht, dass Rachel dich uns fortnimmt.« Dafür gab es zwar keine wirklichen Beweise. Aber irgendwie fühlte sie, im Moment wenigstens, dass es so war. »Zumindest nicht jetzt sofort.«
»Aber …«
»Ich denke, wir haben dafür bezahlt«, sagte Cecilia leise, grausam und hart und fügte mit einer Handbewegung in Richtung Polly hinzu: »Und wie!«
56
Rachel saß vor dem Fernseher und stierte in das bunte, hypnotisierende Geflacker von Bildern und Gesichtern. Hätte man den Fernseher ausgeschaltet und sie gefragt, was sie gerade geschaut hatte, sie hätte es nicht sagen können.
Sie könnte jetzt sofort zum Telefon greifen und John-Paul Fitzpatrick wegen Mordes hinter Gitter bringen. Sie könnte es jetzt sofort tun, in einer Stunde oder morgen früh. Sie könnte warten, bis Polly aus dem Krankenhaus entlassen wurde und wieder daheim war, oder weitere Monate. Sechs Monate. Ein Jahr. Lass ihr ein Jahr mit ihrem Vater, dann nimm ihn ihr weg! Sie könnte warten, bis der Unfall so weit in die Vergangenheit gerückt war, dass er nur mehr eine Erinnerung war. Sie könnte warten, bis die Fitzpatrick-Mädchen ein bisschen älter waren, ihren Führerschein hatten und ihren Daddy nicht mehr brauchten.
Es war, als hätte man ihr eine geladene Schusswaffe in die Hand gegeben mit der Lizenz, Janies Mörder jederzeit zu erschießen. Wenn Ed noch leben würde, wäre der Abzug längst gedrückt. Er hätte die Polizei vor Stunden schon alarmiert.
Sie dachte an John-Pauls Hände um Janies Hals und fühlte den altvertrauten Zorn in ihrer Brust erwachen. Mein kleines Mädchen.
Sie dachte an sein kleines Mädchen. Den rosa Glitzerhelm. Bremsen. Bremsen. Bremsen.
Was, wenn sie der Polizei von John-Pauls Geständnis erzählen würde?
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