Die Wahrheit stirbt zuletzt
genug Anlass zur Sorge. Irinas Geschichte war erschreckend. Wenn das mächtige NKWD erst einmal beschlossen hatte, dass sie eine Verräterin war, würde sie Mühe haben, es vom Gegenteil zu überzeugen. Selbst ihr Vater würde sie dann kaum vor einer Anklage als Volksfeindin bewahren können. Und war der Vater selbst überhaupt sicher? War überhaupt irgendjemand außer dem großen Stalin höchstselbst davor sicher, angeklagt, gefoltert und verurteilt zu werden, wenn er erst einmal das übliche Geständnis abgelegt hatte?
Er glaubt keineswegs alles, was die Zeitungen über die Prozesse in Moskau berichten, aber er ist überzeugt, dass man unweigerlich über den Haufen gefahren wird, wenn man es wagt, sich Stalins Dampfwalze in den Weg zu stellen. Das Ganze hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun, sondern ist ausschließlich eine Frage des Glücks. Denn was geschieht eigentlich daheim in ihrem Russland? Er weiß es nicht. Weiß sie es? Sie verbirgt etwas vor ihm. Er hat versucht, es herauszubekommen, aber sie hat ihm nicht antworten wollen. Es gebe ausreichend Gründe, nicht gerade in Hochstimmung zu sein, hat sie gesagt. Nehme er die Neuigkeiten von der Front denn gar nicht zur Kenntnis? An den meisten Frontabschnitten laufe es nicht gut. Die Republik müsse bald zum Angriff übergehen, sonst sei ihr Todesurteil besiegelt. Darin musste er ihr natürlich zustimmen, aber er glaubt nicht, dass das der Grund für ihre Niedergeschlagenheit und die Angst ist, die sie mit aller Macht zu bekämpfen und vor ihm zu verbergen sucht.
Die Spekulationen galoppierten wild in seinem Kopf umher, während Montero sie durch die verlassene Landschaft fuhr, bis das Dorf, nur dreißig Kilometer von Albaceteentfernt, wie ein merkwürdiger Haufen Steine und vergilbte Ziegel im Staub vor ihnen auftauchte und ziemlich unbewohnt aussah.
Er hat das Geräusch schon über das ruhige Brummen des Motors hinweg gehört, bevor er die Männer schließlich sieht, als Montero an einem großen Exerzierplatz anhält, auf dem mehrere Hundert junge Männer auf Spanisch angeschrien werden. Sie müssen unzählige Male über den Platz marschieren, sich umdrehen, auf den Boden werfen, ihre Gewehre präsentieren und sich wieder in den Staub legen, nur um sich dann erneut in Reih und Glied aufzustellen. Von den weiter entfernten, grün gesprenkelten Berghängen tönen Gewehrsalven wie von einem Schießstand zu ihnen herüber.
Er ist ausgestiegen und hat ein paar Zigaretten geraucht, bis der Befehl zum »Rührt euch« und zur Pause erteilt wird. Die Soldaten setzen sich in den Staub und holen ihren Tabak heraus. Magnus fragt laut auf Dänisch, ob hier vielleicht ein Landsmann von ihm anzutreffen sei, und ein jungenhafter Kerl mit Sommersprossen, der eine viel zu große Jacke und eine schwarze Schiebermütze trägt, schlurft zu ihm herüber und nimmt eine Zigarette von ihm an. Er erzählt Magnus, dass er seinen Bruder möglicherweise in Pedros Café finden könne, in dem sich die Skandinavier oft träfen. Es liege schräg gegenüber der Kirche, in der er Mads eventuell auch antreffen könne, aber wenn er am Ausbildungslager teilnehme, sitze er in der Pause meistens bei Pedro.
»Er gehört zu den Geheimen in Pozo Rubio«, sagt der junge Däne mit einem schiefen Grinsen. Aber natürlich kenne er Mads. Mads habe neulich Gedichte vorgetragen, als sie einen Kameradschafts- und Kulturabend veranstalteten. Sowohl eigene Gedichte als auch welche von anderen Dichtern. Es sei sehr beeindruckend gewesen. Mads sei ein toller Kerl.
Jetzt steht Magnus in der Türöffnung und schaut in das Café, in dem sich vielleicht ein halbes Dutzend Tische befinden, von denen etwa die Hälfte besetzt ist. Ganz hinten in dem verrauchten Raum sitzen vier Männer, auf deren Tisch eine fast leere Weinflasche steht. Magnus betritt das Café und macht einen Schritt nach links, aber niemand scheint ihn in dem bläulich wogenden Licht zu beachten. So kann er einen Moment stehen bleiben und seinen kleinen Bruder betrachten, der sich laut auf Deutsch unterhält. Magnus erkennt darin den vertrauten Tonfall ihres Kindermädchens wieder.
Er sieht Mads an und versucht, in dem mageren, aber zugleich energischen und erwachsenen jungen Mann, der mit dem Gesicht zur Tür sitzt und anscheinend gerade seine Meinung mit einer Geste der rechten Hand unterstreicht, den fünfzehnjährigen Jungen wiederzuerkennen, den er vor mehr als fünf Jahren verlassen hat. Mads’ Züge sind so zart, dass sie fast feminin
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