Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
Vom Netzwerk:
wirken, und der natürliche Fall seines weichen dunkelblonden Haares umrahmt seine hohe, gerade Stirn, die ihn seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten aussehen lässt. Er hat die unschuldigsten braunen Augen mit langen Wimpern und einen Mund, der offensichtlich gern lächelt. Er hat noch immer kaum Bartwuchs. Seine Ohren sind wohlgeformt und liegen eng an seinem schmalen Kopf an. Er scheint immer noch einen halben Kopf kleiner zu sein als Magnus, aber er wirkt kräftiger als früher.
    Er sieht aus wie immer und doch irgendwie verändert. Sein schmaler Körper wirkt drahtig, er scheint aus nichts als Sehnen und Muskeln zu bestehen. Er trägt ein khakifarbenes Hemd, dessen Ärmel er bis zur Mitte seines Bizeps hochgekrempelt hat. Die beiden oberen Hemdknöpfe sind geöffnet, und er hat ein rotes Tuch locker um den Hals gebunden. Über der Stuhllehne hängt eine schwarze Jacke, und weil Mads den Stuhl ein Stück nach hintengeschoben hat, kann Magnus den Schaft einer Pistole an seinem breiten Gürtel erkennen. Pistolen oder Revolver sind nicht so leicht zu bekommen und werden in der Regel nur an die Politkommissare ausgehändigt. Mads muss also eine wichtige Position innehaben, es sei denn, es handelt sich dabei um Kriegsbeute.
    Der Geräuschpegel im Café ist hoch, aber Magnus versteht trotzdem einzelne Sätze, in denen Mads Wörter wie »Sieg«, »Sozialismus«, »Freiheit« und »gerechter Kampf« ein ums andere Mal zu wiederholen scheint. Links von Mads sitzt ein großer, knochiger Mann, der sein Weinglas so festhält, dass es ganz in seiner Hand verschwindet, raucht und nachsichtig den Kopf schüttelt. Der dritte Mann scheint nicht zu verstehen, was Mads sagt, während der vierte ihm antwortet und noch einmal wiederholt, das Allerwichtigste sei Disziplin. Magnus hört, dass er Deutscher ist. Einer der vielen deutschen Kommunisten oder Sozialdemokraten, die vor Hitler ins Exil geflohen sind und die im Thälmann-Bataillon kämpfen.
    Er betrachtet seinen kleinen Bruder, und ihm wird ganz warm ums Herz. Er wünscht, Marie wäre hier oder er könnte zumindest das Bild von Mads einfrieren und es durch die Luft zu ihr nach Hause transportieren, sodass sie ihren kleinen Bruder genau in diesem Augenblick sehen könnte und wüsste, dass er gesund und munter ist und höchst präsent in diesem einfachen spanischen Café.
    Er bleibt auf seinem Platz stehen und wartet geduldig. Jetzt bemerkt Mads anscheinend, dass er beobachtet, sogar angestarrt wird. Er schaut auf und blickt in Magnus’ Augen, und die Zigarette in seiner Hand scheint für einen Moment in der Luft stillzustehen. Es erinnert an ein Bild, das genau jene Sekunde festhält, bevor der Lärm wieder losbricht. Jetzt schiebt Mads seinen Stuhl ganz zurück und steht auf.
    Magnus macht einen Schritt nach vorn und bleibt abwartendstehen. Mads geht um den Tisch herum auf ihn zu, während der große, knochige Mann verwundert zusieht. Vielleicht hat er ihre Ähnlichkeit bemerkt, denn trotz aller Unterschiede ähneln sie einander, auch wenn Mads eine Leichtigkeit und Anmut besitzt, die ihre gemeinsame Mutter Magnus nicht vererbt hat.
    Mads bleibt vor ihm stehen, und so verharren sie für einen Moment. Dann breitet er die Arme aus, zieht seinen großen Bruder an sich und umarmt ihn. Magnus spürt, wie stark er ist. Sie halten einander eine Weile im Arm, bevor Mads ihn loslässt, einen Schritt zurücktritt und mit einer leisen, aber tiefen und männlichen Stimme sagt, die vollkommen anders klingt als die Jungenstimme, die Magnus in Erinnerung hat: »Das gibt’s doch gar nicht, Magnus. Ich dachte, ich sehe ein Gespenst!«
    »Nein. Ich bin ziemlich echt, Bruderherz.«
    »Das bist du wohl, aber trotzdem … Was zum Teufel machst du hier?«
    »Du bist ein richtiger Mann geworden.«
    »Es ist ja auch schon lange her, dass du von zu Hause abgehauen bist.« Mads scheint die Härte seiner Entgegnung zu bereuen, denn er fährt rasch fort: »Du siehst aus wie immer. Du hast dich gar nicht verändert. Es kommt mir ganz unwirklich vor, aber es ist natürlich sehr schön, dich zu sehen. Du hattest mir doch nicht geschrieben, oder? Was machst du hier? Hast du dich als Freiwilliger gemeldet? «
    »Nein. Ich soll dir viele liebe Grüße von Marie bestellen. Sie vermisst dich ganz fürchterlich.«
    »Dann bist du also zu Hause gewesen?«
    »Ja, das bin ich.«
    »Sollst du mich auch von Vater grüßen?«
    »Ja, das soll ich. Von Gott und Vater.«
    »Das ist wohl dasselbe, bloß in

Weitere Kostenlose Bücher