Die Wahrheit stirbt zuletzt
umgekehrter Reihenfolge.«
Sie müssen beide lachen, küssen sich auf die Wangen und klopfen einander auf den Rücken wie zwei fröhliche Schuljungen, die einander nach unendlich langen Sommerferien endlich wiedersehen.
Mads zieht Magnus an seinen Tisch und stellt ihm die drei Männer vor. Magnus versteht weder den Namen des Deutschen noch den des dritten Mannes, der offenbar Belgier ist, aber der große Knochige steht auf, gibt ihm die Hand und wiederholt seinen Namen. Er ist Bertil, der Schwede aus Kiruna. Magnus kennt ihn ja bereits aus Mads’ Novelle, die er vor gefühlten hundert Jahren gelesen hat. Sie rücken zusammen, damit Magnus sich zu ihnen an den Tisch setzen kann, aber er sagt, er müsse allein mit seinem Bruder sprechen.
»Ist zu Hause etwas nicht in Ordnung? Ist irgendetwas mit Marie?«, fragt Mads, als er Magnus’ ernstes Gesicht sieht.
»Nein, nein, es geht ihr gut. Sie möchte nur, dass du nach Hause zurückkommst. Dass du das hier beendest.«
Mads sieht ihn an und sagt: »Habe ich es mir doch gedacht. Man hat dich geschickt.«
»Können wir nicht woanders darüber reden?«
»Lass uns einen Spaziergang machen. Ich brauche frische Luft«, sagt Mads, ergreift seine Jacke und nickt seinen Kameraden am Tisch zu. Der Schwede sagt, er übernehme die Rechnung.
Sie gehen durch das Dorf, dessen Häuser sich in der kühlen, trockenen Luft zu ducken scheinen, durch eine Wiesenlandschaft und noch ein ganzes Stück weiter bis zu einem Fluss, der sich hinter dem Dorf durch eine kleine Schlucht schlängelt. Sie hören das Geräusch von Ziegenglocken, sonst herrscht Stille. Am Schießstand wird offenbar gerade Pause gemacht. Drei schwarze Geier schweben in der Luft. Am Horizont hängen graue Wolken über den Bergen. Sie sehen den Staub, den eine Militärkolonne aufwirbelt,die irgendwo in der Ferne vorbeifährt. Magnus sieht, wie Mads den Himmel instinktiv und systematisch nach Flugzeugen absucht.
Sie wiederholen mechanisch, wie schön es sei, wieder zusammen zu sein, aber ihre Aussagen lassen die echten Gefühle ihres Wiedersehens im Café vermissen. Magnus richtet die Grüße von Svend Poulsen aus. Mads bedankt sich mit einem Lächeln, das sein Gesicht jünger wirken lässt, und erkundigt sich, wie es Svend gehe und wie er mit seinem einen Arm zurechtkomme. Magnus erzählt, dass Svend ihm geholfen habe und dass er offiziell als Journalist in Spanien unterwegs sei, aber dass Marie ihn in der Tat gebeten habe, Mads zu finden und nach Hause zurückzuholen. Mads antwortet nicht, aber sein junges Gesicht verfinstert sich. Unausgesprochene und böse Worte liegen lauernd zwischen ihnen.
Mads fragt, wie es Magnus in den USA und in Argentinien ergangen sei, und Magnus erzählt seine üblichen, halb wahren Geschichten. Vielleicht wird einmal der Tag kommen, an dem er Mads erzählen wird, wie es dort in Wahrheit zugegangen ist, aber als sie Seite an Seite am Fluss entlang spazieren gehen, ist die Stimmung zwischen den beiden Brüdern zu angespannt.
Als Magnus auf den Krieg zu sprechen kommt und erwähnt, dass er seine Novelle gelesen habe, macht Mads Ausflüchte und spielt das Ganze herunter. Er redet wie eine Propagandaschrift und schaut weg, während er mit den üblichen Floskeln verkündet, die Brigaden würden siegen, weil sie für etwas kämpften, das größer sei als sie selbst. Sie benehmen sich fast wie Eheleute, die erkannt haben, dass ihre Beziehung sich in einer Krise befindet, aber nicht den Mut haben, es einander zu sagen. Magnus wiederholt, dass Marie Mads vermisse und wolle, dass er nach Hause zurückkehre, aber Mads antwortet nicht darauf.
Sie gelangen zu einem Felsvorsprung, der aussieht wie eine kleine, von der Natur geschaffene Gartenbank. Mads setzt sich und zündet sich eine Zigarette an. »Hier sitze ich manchmal, wenn ich aus Pozo Rubio herüberkomme und meine Ruhe haben will«, sagt er. »Ich hoffe auch, endlich mal wieder ein Gedicht schreiben zu können, aber wenn ich hier alleine sitze, fällt mir einfach nichts ein.«
Magnus muss an sein Gespräch mit Svend Poulsen denken, bei dem sie auf einem umgekippten Baumstamm saßen. Zwei Flüsse. Zwei Länder. Zwei völlig verschiedene Situationen, und dennoch hängen sie zusammen. Ohne Poulsen säße Mads wohl kaum hier, und ohne Mads wäre Magnus niemals nach Spanien gereist. Schicksalsfäden ohne Sinn und Zweck. Alles ist Zufall, und es ist unmöglich, einen Sinn oder ein Muster in dem zu erkennen, was passiert, denkt er, als Mads sagt:
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