Die Wahrheit stirbt zuletzt
vertrauten Klang von Pferdehufen auf Stroh. Plötzlich vermisst er es zu reiten. Er muss an die Morgenstunden in Argentinien denken, als sie bei Sonnenaufgang ausritten und die Hufe der Pferde zarte Muster in den Morgentau zeichneten.
Zwei Männer schleppen Strohballen an ihm vorbei und grüßen nickend. Über den weißen Gebäuden hängt eine bleiche Sonne und wirft ein gespenstisches Licht auf die Dächer. Er hört einen Vogel schreien, in weiter Ferne kläfft ein Hund, und schon bald stimmen weitere mit ein. Er zündet sich eine Zigarette an und geht über den alten Kasernenhof. Er spürt Kommissar Pandrups Blick im Nacken, aber als er sich umdreht, ist die Tür mit der römischen Zehn geschlossen.
Im Postraum, in dem jetzt nur noch vier Frauen arbeiten,brennt Licht. Eine der Frauen ist Tove Hansen. Er schaut sich erneut um. Da ist niemand. Ein Mann in Uniform geht grußlos an ihm vorbei. Magnus räuspert sich, Tove Hansen lächelt und winkt ihn zu sich.
»Ich habe gleich Schluss. Vielleicht geben Sie eine Tasse Kaffee aus? Ich kenne ein ausgezeichnetes Café.«
Sind sie nicht per Du? Das hat sie vielleicht schon wieder vergessen, oder vielleicht erinnert er sie auch einfach an die Konventionen der Heimat. »Wenn wir Brüderschaft trinken, gebe ich ein Mittagessen aus.«
»Dazu sagt man nicht Nein. Zu einer warmen Mahlzeit sagt hier niemand Nein.«
»Für den Fall also, dass du in diesem Loch ein Restaurant kennst?«
»Das tue ich, Magnus Meyer.«
»Dann warte ich auf dich.«
»Ach, ich kann ruhig schon Schluss machen«, sagt sie, hebt die Stimme und sagt auf Spanisch zu den drei anderen Frauen: »Auf Wiedersehen, Kameraden.«
Sie schauen kurz von den Posthaufen auf und sagen »adios«, dann kehren sie schnell zu ihrer Sortierarbeit zurück, die langwierig ist, weil sie bei jedem Brief die Soldatenunterlagen in den vielen Aktenordnern zurate ziehen müssen.
Magnus und Tove Hansen gehen in Richtung Zentrum. Aus einer Kirche sind laute Männerstimmen zu hören, die offensichtlich darüber diskutieren, was sie abends unternehmen sollen. Die Wolken hängen schwarz über der Stadt, die sich auf der Hochebene zu verkriechen scheint. Ein Plakat mahnt, auf Spione und andere Faschisten achtzugeben. Ein anderes verspricht, dass »der Sieg unser« sei, und ein drittes in denselben prächtigen roten Farben behauptet, dass die Faschisten niemals siegen.
Tove Hansen hat ein wenig Lippenstift aufgelegt und sich die Haare gekämmt, aber sie sieht trotzdem ungepflegtund müde aus, findet Magnus, der auf einmal Mitleid mit ihr hat. Sie geht schnellen Schrittes und erzählt in ihrem langsamen jütischen Dialekt von ihrem Leben und warum sie hier gelandet ist, während sie routiniert einen der Messerverkäufer abwimmelt. Sie ist erst siebenundzwanzig Jahre alt. Während ihres Spaziergangs zum Restaurant erfährt er einen Teil ihrer Geschichte, den Rest dann während des Mittagessens.
Sie wollte etwas erleben und wurde Mitglied der Kommunistischen Partei, weil ihr Verlobter es ebenfalls war und sie zu den ersten Treffen mitnahm. Dann kam ein Mann aus Spanien, der sie dazu aufforderte, sich freiwillig zu melden und die legal gewählte Regierung zu unterstützen. Er sprach mit so viel Wärme und Überzeugungskraft davon, dass nur zu reden nicht weiterhelfe, dass jetzt gehandelt werden müsse, wenn man verhindern wolle, dass der Faschismus zuerst in Spanien und später vielleicht auch in Dänemark siege. Es hatte sich so selbstverständlich angefühlt. Dem Faschismus musste hier und jetzt Einhalt geboten werden, ehe er ganz Europa überschwemmte. Poul – so hieß ihr Verlobter – hatte zum wiederholten Male seine Arbeit verloren und schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Es gab mit anderen Worten nichts, was sie daheim in Randers gehalten hätte, also machten sie sich auf den Weg, überquerten zusammen mit anderen Freiwilligen die Pyrenäen und landeten schließlich in Barcelona.
Tove erhielt sogar eine kurze militärische Grundausbildung, dann wurde ihr ein altes tschechisches Gewehr in die Hand gedrückt, und sie verbrachte drei Wochen an der Front in Aragonien, wo es aber zu keinen nennenswerten Kampfhandlungen kam. Sie schaffte es, gerade mal vier Schüsse abzugeben, ohne jemanden dabei zu verletzen. Sie und Poul waren Teil einer Volksfront, hatten sich aber einer anarchistisch eingestellten katalanischen Arbeitermiliz angeschlossen, die jedoch bald darauf mitder Komintern und der Partei aneinandergeriet.
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