Die Wahrheit über Alice
mal, dass du Philippas Bruder bist.»
Mick antwortet nicht, stattdessen schaut er mich an und fragt sich anscheinend, wer die seltsame Frau ist und warum sie so
unterschwellig aggressiv wirkt. Er greift nach seinem Glas und trinkt erst einmal einen kräftigen Schluck Bier. Dann nimmt
er meine Hand, steht auf, zieht mich hoch und schleift mich mit auf die Tanzfläche.
Er presst mich an sich und vergräbt sein Gesicht an meinem Hals. Wir wiegen uns mit der Musik, unsere Körper bewegen sich
perfekt im Rhythmus. Ich atme Micks Geruch ein und berausche mich an seiner Nähe und am Takt der Musik.
Wir tanzen, bis Mick für das letzte Set wieder auf die Bühne muss. Als ich zurückkomme, sitzt Alice woanders. Sie hat sich
am Tisch hinter uns zu zwei Männern gesellt. Sie plaudert angeregt, gestikuliert lebhaft und energisch. Beide Männer sind
von ihr hingerissen und lauschen wie gebannt. Sie haben sich beide zu ihr vorgebeugt und buhlen um ihre Aufmerksamkeit. Ich
wundere mich, wie leicht sie ihren Freund vergessen kann, die große Liebe ihres Lebens, doch ich bin viel zu glücklich, um
mir wegen Alice Gedanken zu machen. Jetzt muss ich nur über sie lächeln. Ich versuche, ihren Blick aufzufangen, aber sie schaut |209| gar nicht in meine Richtung. So beschäftigt ist sie mit ihren neuen Eroberungen.
Als der Pub schließt, brechen wir alle zusammen auf. Alice hat sich bei den beiden Männern vom Nachbartisch eingehakt. Die
drei gehen vor uns her. Alice klingt laut und fröhlich. Sie dreht sich um und sieht mich an.
«Ich geh noch mit Simon und Felix woandershin», ruft sie so laut, dass alle um uns herum es hören können.
«Okay», erwidere ich lachend.
Alice und Felix und Simon steuern auf die Warteschlange am Taxistand zu und stellen sich hinten an. Mick hat sein Motorrad
ein Stück weiter die Straße hoch abgestellt, und wir müssen auf dem Weg dorthin an den Wartenden vorbei.
«Oooh, seht mal, eine richtig schöne Reihe, um Cancan zu tanzen», sagt Alice laut. Es ertönen ein paar Lacher, und irgendwer
knurrt müde: «Ach, halt doch die Klappe.»
Und dann fängt sie an, die Beine hochzuwerfen und die bekannte Cancan-Melodie zu singen. Die beiden Männer neben ihr stützen
sie, während sie ihre Beine höher und höher in die Luft wirft. Jeder Kick offenbart mehr von ihren wohlgeformten Schenkeln,
ihrem Slip. «Nah nah, na-na-na-na, nah nah, na-na-na-na, nah nah», singt sie laut und genießt sichtlich die Aufmerksamkeit
der Männer, ohne sich durch die gereizten und missbilligenden Blicke einiger Wartender stören zu lassen.
Als endlich ein Taxi für sie anhält, springen Alice und ihre beiden neuen Freunde hinein.
«Bye-bye, ihr Lieben», ruft sie den Leuten zu, als das Taxi losfährt. «Viel Spaß noch. Bye-bye.»
«Wer ist denn die?», fragt Mick. Er schüttelt verwundert den Kopf.
«Eine Freundin von mir», sage ich. Und ich frage mich, warum ich das Gefühl habe, dass das eine Lüge ist.
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D as hat aber Spaß gemacht, Mummy. Einen Riesenspaß.» Sarah schaut zu mir hoch. Wangen und Nase sind rot vor Kälte, aber ihre
Augen strahlen. «Darf ich nochmal? Diesmal ganz allein?»
«Na klar», sage ich. Und dann sehe ich zu, wie sie mit einer Hand den Schlitten nimmt und langsam den Hügel hinaufstapft.
Der Hügel ist nicht besonders steil, aber das Gefälle ist lang genug, um einigermaßen in Fahrt zu kommen und ein ganz ordentliches
Tempo zu erreichen. Beim ersten Mal hat Sarah die ganze Zeit gekreischt, und ich dachte schon, sie hätte Angst, aber wie sich
herausstellte, war es nur die pure Freude.
Ich hatte vergessen, wie schwer und behäbig ich mich fühle, wenn ich Winterkleidung trage. Ich kann der Kälte nicht viel abgewinnen
und konnte sie eigentlich nie besonders ausstehen. Ich bevorzuge die Leichtigkeit des Sommers, das Gefühl von Freiheit und
Freude und Lebendigkeit, das er in mir weckt. Der Winter macht mich trübsinnig und erinnert mich an den Tod. Aber ich will
nicht, dass Sarah dadurch beeinflusst wird, was ich mag oder nicht mag. Sie soll sich ihre eigenen Meinungen bilden und eigene
Entscheidungen treffen können. Durch ihre Begeisterung vermittelt sie mir etwas von dem Zauber und Wunder dieser weißen, eiskalten
Welt.
Bei ihrer vierten oder fünften Fahrt den Hügel hinunter, gerade als mir allmählich das Gesicht einfriert, gerade als ich mit
dem Gedanken spiele, Sarah mit der Aussicht auf eine heiße |211| Schokolade zu einer
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