Die Wahrheit über Alice
lege meine Hand auf seine. «Robbie? Was hast du denn?»
Aber er nimmt mich gar nicht mehr wahr. Er zieht seine Hand unter meiner weg und steht auf. Schwerfällig schiebt er seinen
Stuhl zurück, stützt sich auf den Tisch, als wollte er Kraft sammeln, und geht dann auf das zu, was er gesehen hat.
«Robbie? Wo willst du … Robbie!» Ich stehe auf und folge ihm, komme mir in dem vollbesetzten Restaurant aber blöd und auffällig vor. Ich weiß nicht,
was los ist. Robbie scheint mich plötzlich weder sehen noch hören zu können, und ich fürchte, dass er vielleicht so was wie
einen Anfall hat, eine Art psychischen Kollaps.
Doch dann bleibt er direkt vor einem Mann an der Bar stehen. Und der Mann lächelt erfreut und streckt den Arm zur Begrüßung
aus. Robbies Gesicht bleibt kalt, sein Körper stocksteif, er wirkt seltsam aggressiv.
«Was machst du hier?», faucht Robbie. «Was soll das? Was hast du mit ihr zu tun? Wo steckt sie? Wo ist sie hin?»
|217| Die Augen des Mann weiten sich vor Verblüffung. «Wo soll wer hin sein, Robs?», sagt er. «Was ist los mit dir? Wovon redest
du?»
«Ich hab euch gerade zusammen gesehen, Dad!», schreit Robbie, und jetzt sehe ich mir den Mann genauer an und erkenne die Augen,
die Wangenpartie. Es ist Robbies Vater! «Ihr habt euch geküsst! Ich hab sie gerade hier gesehen. Mit dir zusammen. Ich hab
euch zusammen gesehen, verdammt nochmal.»
«Robbie.» Ich lege meine Hand auf seinen Arm, versuche, ihn zu beruhigen. «Was …?»
Aber er schüttelt mich ab und beugt sich drohend zu seinem Vater. «Ich hab dich mit ihr gesehen. Ich hab euch gesehen.» Und
obwohl er nicht mehr schreit, ist seine Stimme voller Zorn. Er ist so verstört und aufgewühlt, dass er zittert und beinahe
weint.
Sein Vater bleibt ganz beherrscht und sieht Robbie freundlich an. «Junge, beruhige dich doch. Sie ist nur mal eben zur Toilette.
Sie kommt gleich wieder, dann lernst du sie ja kennen. Das muss doch kein Problem sein. Du wirst sie bestimmt mögen.»
Und da begreife ich, was passiert ist. Robbie hat seinen Vater mit einer Frau gesehen, zum ersten Mal mit seiner neuen Freundin.
Sein Zorn ist eine unangebrachte und unangemessene Loyalität gegenüber seiner Mutter.
Robbie lacht hämisch – ein unnatürlicher und freudloser Laut, der von irgendwo tief in seiner Kehle kommt, und starrt seinen
Vater verächtlich an. «Sie kennenlernen? Was soll das heißen, sie kennenlernen? Soll das etwa so was wie ein perverses Geburtstagsgeschenk
sein oder was?»
Ich lege meine Hand auf Robbies Rücken. «Komm, Robbie. Sei nicht so. Bitte. Los, wir gehen wieder an unseren Tisch, ja? Lass
deinen Dad in Frieden.» Und Robbies Vater lächelt mich dankbar an.
|218| Dann sehe ich sie. Alice. Sie kommt von den Toiletten. Sie geht mit raschen Schritten direkt auf uns zu, den Kopf gesenkt,
ein schwaches Lächeln im Gesicht, und einen kurzen, verblendeten Moment lang bilde ich mir ein, dass sie wegen Robbie gekommen
ist, dass sie doch noch beschlossen hat, ihn zu seinem Geburtstag hier zu überraschen. Einen Moment lang bin ich sogar froh,
sie zu sehen, und hoffe, dass ihr Auftauchen ihn von seiner Wut auf seinen Vater ablenkt.
Dann sehen Robbie und sein Vater sie auch.
«Aha», sagt Robbies Vater, und in seiner Stimme liegt jetzt bemühte Begeisterung. «Da kommt Rachel ja. Ich stelle euch vor.»
Rachel?, denke ich. Rachel? Und obwohl ich kaum einen klaren Gedanken fassen oder mir erklären kann, was hier vorgeht, nimmt
mir mein Unterbewusstsein anscheinend die Arbeit ab. Plötzlich weiß ich genau, was sie hier macht, wer ihr geheimnisvoller
älterer Freund ist und was Robbie vorhin gesehen hat.
In diesem Moment schaut Alice hoch. Sie bleibt stehen, und ihr Blick huscht zwischen Robbie und seinem Vater hin und her.
Das Lächeln weicht aus ihrem Gesicht. Eine Sekunde lang wirkt sie erschrocken und ängstlich, so als überlegte sie, kehrtzumachen
und das Weite zu suchen. Doch sie zögert nur kurz, und dann wirft sie die Haare nach hinten aus dem Gesicht, verzieht die
Lippen zu etwas, das einem Lächeln ähnelt, und kommt zu uns herüber.
Robbies Vater legt seine Hand auf Alice’ Arm und zieht sie an seine Seite. Alice’ Ausdruck ist völlig unergründlich, und obwohl
sie bei unserem Anblick schockiert schien, sieht sie jetzt absolut entspannt aus, sogar leicht belustigt, als wäre die ganze
Situation bloß ein Spiel und wir ihr Spielzeug.
«Robs, das ist
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