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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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Etwas zu tun, weil es getan werden muss, hatte noch nie einen Sinn. Es ist also überhaupt nicht verwunderlich, dass Sie keine einzige Zeile zustande gebracht haben. Schriftstellerisches Talent ist nicht etwa deshalb eine Gabe, weil man vernünftig schreiben, sondern weil man seinem Leben dadurch einen Sinn geben kann. Tag für Tag sterben Menschen und werden Menschen geboren. Tag für Tag strömen Scharen von namenlosen Arbeitern in große graue Gebäude hinein und wieder hinaus. Und dann sind da die Schriftsteller. Ich glaube, Schriftsteller leben ihr Leben intensiver als andere. Schreiben Sie nicht im Namen unserer Freundschaft, Marcus. Schreiben Sie, weil es Ihre einzige Möglichkeit ist, diese winzige, unbedeutende Sache, die man Leben nennt, zu einer brauchbaren, befriedigenden Erfahrung zu machen.«
    Ich sah ihn lange an. Es war, als würde ich der letzten Lektion meines Lehrmeisters beiwohnen. Der Gedanke war unerträglich.
    Schließlich sagte er noch: »Sie hat die Oper geliebt, Marcus. Erzählen Sie das in Ihrem Buch. Ihre Lieblingsoper war Madama Butterfly . Sie hat immer gesagt, die schönsten Opern sind die traurigen Liebesgeschichten.«
    »Wer? Nola?«
    »Ja. Dieses kleine fünfzehnjährige Mädchen hat die Oper über alles geliebt. Nach ihrem Selbstmordversuch hat sie zehn Tage in Charlotte’s Hill in einer Erholungseinrichtung verbracht. Heute nennt man so etwas psychiatrische Klinik. Ich habe sie heimlich besucht und ihr Opernplatten mitgebracht, die wir uns auf einem tragbaren Plattenspieler angehört haben. Sie war zu Tränen gerührt und hat gesagt, wenn sie keine Schauspielerin in Hollywood wird, dann eben Sängerin am Broadway. Und ich habe ihr gesagt, sie wird die größte Sängerin in der Geschichte Amerikas. Wissen Sie, Marcus, ich glaube, Nola Kellergan hätte es weit bringen können …«
    »Glauben Sie, ihre Eltern hätten ihr etwas antun können?«
    »Nein, das halte ich für unwahrscheinlich. Außerdem ist da diese Widmung auf dem Manuskript … Jedenfalls kann ich mir David Kellergan nicht wirklich als Mörder seiner Tochter vorstellen.«
    »Immerhin wurde sie verprügelt …«
    »Ja, das mit der Prügel ist eine merkwürdige Geschichte …«
    »Und was ist mit Alabama? Hat Nola mit Ihnen über Alabama gesprochen?«
    »Über Alabama? Ja, die Kellergans kamen aus Alabama.«
    »Das meine ich nicht, Harry. Ich glaube, dass in Alabama etwas vorgefallen ist und dieser Vorfall mit ihrem Umzug zu tun hat. Aber ich weiß nicht, was es ist. Und ich habe auch keine Ahnung, wer mir da weiterhelfen könnte.«
    »Armer Marcus, ich habe den Eindruck, je tiefer Sie graben, desto mehr Rätsel fördern Sie zutage …«
    »Ihr Eindruck täuscht Sie nicht, Harry. Übrigens habe ich herausgefunden, dass Tamara Quinn über Sie und Nola Bescheid wusste. Das hat sie mir selbst gesagt. Als Nola versucht hat, sich das Leben zu nehmen, ist Tamara wutentbrannt zu Ihnen gefahren, weil Sie sie bei einer Gartenparty, die sie an dem Tag gegeben hat, versetzt hatten. Aber Sie waren nicht zu Hause, und sie hat in Ihrem Arbeitszimmer herumgeschnüffelt. Dort ist sie auf einen Text gestoßen, den Sie über Nola geschrieben hatten.«
    »Jetzt, wo Sie es erwähnen, fällt mir wieder ein, dass ich eine Seite mit Notizen vermisst habe. Ich habe lange vergeblich danach gesucht und mir dann gesagt, dass ich sie wohl verlegt habe. Das hat mich damals ziemlich gewundert, weil ich schon immer ein sehr ordentlicher Mensch gewesen bin. Was hat sie damit gemacht?«
    »Angeblich ist sie ihr abhandengekommen …«
    »Und die anonymen Briefe, hat sie die geschrieben?«
    »Das bezweifle ich. Sie wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, dass zwischen Ihnen und Nola etwas sein könnte. Sie dachte einfach nur, dass Sie Ihren Phantasien über Nola freien Lauf gelassen haben. Apropos, hat Chief Pratt Sie eigentlich im Rahmen seiner Ermittlungen nach Nolas Verschwinden befragt?«
    »Chief Pratt? Nein, nie.«
    Das war seltsam: Warum hatte Chief Pratt Harry im Zuge seiner Ermittlungen nie befragt? Tamara hatte behauptet, sie hätte ihm erzählt, was sie wusste. Ohne Nola und die Gemälde zu erwähnen, wagte ich es nun, Sterns Namen zu nennen.
    »Stern?«, fragte Harry. »Ja, den kenne ich. Ihm gehörte früher das Haus in Goose Cove. Ich habe es ihm nach dem Erfolg von Der Ursprung des Übels abgekauft.«
    »Kennen Sie ihn gut?«
    »Nein. Ich bin ihm im Sommer 1975 ein- oder zweimal begegnet. Das erste Mal beim Sommerball. Wir saßen am

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