Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Vorwürfe. Es war, als hätte er ihr etwas angetan.
Tag für Tag setzte er sich verstohlen auf eine Bank im großen öffentlichen Park rund um die Klinik und wartete darauf, dass sie herauskam, um die Sonne zu genießen. Er sah ihr beim Leben zu. Es war so wichtig zu leben. Er nutzte dann die Tatsache, dass sie draußen war, um in ihr Zimmer zu gehen und einen Brief unter ihr Kopfkissen zu legen.
Mein liebster Schatz,
Sie dürfen nicht sterben. Sie sind ein Engel. Engel sterben nicht.
Sehen Sie? Ich bin nie weit von Ihnen entfernt. Trocknen Sie Ihre Tränen, ich flehe Sie an. Ich ertrage es nicht, Sie traurig zu sehen.
Ich küsse Sie, um Ihren Schmerz zu lindern.
Liebster,
was für eine Überraschung, beim Zubettgehen Ihre Nachricht zu finden! Ich schreibe Ihnen heimlich. Abends dürfen wir nach dem Zapfenstreich nicht mehr auf sein, und die Schwestern sind die reinsten Furien. Aber ich konnte nicht widerstehen. Nachdem ich Ihre Zeilen gelesen hatte, musste ich sofort darauf antworten, nur um Ihnen zu sagen, dass ich Sie liebe.
Ich träume davon, mit Ihnen zu tanzen. Ich bin mir sicher, Sie tanzen besser als jeder andere. Ich würde Sie gern fragen, ob Sie mich auf den Sommerball mitnehmen, aber ich weiß ja, dass Sie das nicht wollen. Sie werden sagen, wenn man uns zusammen sieht, sind wir verloren. Wahrscheinlich werde ich bis dahin sowieso noch nicht entlassen. Doch wozu leben, wenn man nicht lieben darf? Diese Frage habe ich mir gestellt, als ich es getan habe.
Ich gehöre auf ewig Ihnen.
Mein wunderbarer Engel,
irgendwann werden wir zusammen tanzen, das verspreche ich Ihnen. Es wird der Tag kommen, an dem die Liebe siegt und wir uns in aller Öffentlichkeit lieben können. Und wir werden tanzen, wir werden am Strand tanzen. Am Strand, wie am ersten Tag. Sie sehen am Strand so schön aus.
Werden Sie schnell gesund! Irgendwann werden wir am Strand tanzen.
Liebster,
am Strand tanzen – ich träume von nichts anderem.
Sagen Sie mir, dass Sie mit mir zum Tanzen an den Strand gehen werden, nur Sie und ich …
18.
Martha’s Vineyard
Massachusetts, Ende Juli 1975
»In unserer Gesellschaft, Marcus, bewundert man die Menschen am meisten, die Brücken, Wolkenkratzer und Imperien bauen. Dabei sind die Großartigsten und Bewundernswertesten in Wirklichkeit diejenigen, die auf die Liebe bauen. Ein größeres und schwierigeres Unterfangen gibt es nämlich nicht.«
Sie tanzte am Strand. Sie spielte mit den Wellen und lief mit wehendem Haar über den Sand. Sie lachte, denn sie genoss das Leben in vollen Zügen. Von der Hotelterrasse aus sah Harry ihr eine Weile zu, dann vertiefte er sich wieder in die Aufzeichnungen auf seinem Tisch. Er schrieb schnell und gut. Seit ihrer Ankunft hatte er schon mehrere Dutzend Seiten zu Papier gebracht, er kam rasend schnell voran. Das hatte er ihr zu verdanken. Nola, liebste Nola, sein Leben, seine Inspiration. N-O-L-A . Endlich schrieb er seinen großen Roman. Einen Liebesroman.
»Harry!«, rief sie. »Machen Sie mal eine Pause! Kommen Sie schwimmen!«
Er erlaubte sich diese Unterbrechung, ging aufs Zimmer, legte die Seiten in seinen Aktenkoffer und zog sich die Badehose an. Dann stieß er am Strand zu Nola, und sie schlenderten am Ozean entlang, immer weiter weg vom Hotel, der Terrasse, den anderen Gästen und Badenden. Sie kletterten über eine Felsbarriere und gelangten zu einer abgeschiedenen kleinen Bucht. Hier mussten sie ihre Liebe nicht verstecken.
»Nehmen Sie mich in den Arm, liebster Harry«, sagte sie zu ihm, als sie vor neugierigen Blicken geschützt waren.
Er zog sie an sich, und sie schlang fest die Arme um seinen Hals. Dann tauchten sie ins Meer ein, bespritzten sich gegenseitig ausgelassen mit Wasser und streckten sich anschließend auf ihren großen weißen Hotelhandtüchern aus, um sich in der Sonne zu trocknen. Sie legte den Kopf auf seine Brust. »Ich liebe Sie, Harry … Ich liebe Sie, wie ich noch nie jemanden geliebt habe.«
»Das sind die schönsten Ferien meines Lebens«, erklärte Harry.
Nola strahlte: »Lassen Sie uns Fotos machen! Machen wir Fotos, damit wir es nie vergessen! Haben Sie die Kamera dabei?«
Er zog den Fotoapparat aus der Tasche und reichte ihn ihr. Sie schmiegte sich an ihn, hielt den Apparat auf Armeslänge von sich weg und richtete das Objektiv auf sie. Kurz bevor sie auf den Auslöser drückte, verdrehte sie den Kopf und drückte Harry einen langen Kuss auf die Wange. Sie lachten.
»Das wird bestimmt ein sehr schönes
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