Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
der durch einen Urwald aus Kletterpflanzen gegen indiskrete Blicke abgeschirmt war. Ich erblickte mehrere Staffeleien, einige unvollendete Gemälde und auf einem Pult verstreute Pinsel. Dies war ein Malatelier. An den Wänden hingen mehrere Gemälde, die alle sehr gelungen waren. Eines von ihnen zog meinen Blick auf sich: Sofort erkannte ich die Hängebrücke, die sich kurz vor Aurora am Meer befand. Wie sich herausstellte, zeigten sämtliche Bilder Ansichten von Aurora: Da war der Grand Beach, die Hauptstraße, ja sogar das Clark’s. Sie wirkten verblüffend realistisch und trugen allesamt die Signatur L.C. sowie ein Datum, das über das Jahr 1975 nicht hinausging. Da bemerkte ich noch ein Gemälde, es war größer als die anderen und hing in einer Ecke. Ein Sessel stand davor, und es war als Einziges angeleuchtet. Es handelte sich um das Porträt einer jungen Frau. Sie war nur bis knapp über den Brüsten abgebildet, doch es war offensichtlich, dass sie nackt war. Ich trat näher. Ihr Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor. Ich betrachtete es eine Weile, und plötzlich wurde mir klar: Es war ein Porträt von Nola. Ich war wie vom Donner gerührt. Das war sie, ohne jeden Zweifel. Rasch machte ich mit meinem Handy ein paar Fotos und verließ fluchtartig den Raum. An der Eingangstür trat die Hausangestellte bereits von einem Fuß auf den anderen. Höflich verabschiedete ich mich und suchte zitternd und schweißgebadet das Weite.
Eine halbe Stunde nach meiner Entdeckung platzte ich in Gahalowoods Büro im Hauptquartier der State Police. Natürlich war er stinksauer, dass ich Stern aufgesucht hatte, ohne mich mit ihm abzusprechen. »Sie sind unmöglich, Schriftsteller! Unmöglich!«
»Ich habe ihm doch nur einen Besuch abgestattet«, verteidigte ich mich. »Ich habe geklingelt, darum gebeten, ihn sprechen zu dürfen, und er hat mich empfangen. Ich weiß nicht, was daran verkehrt sein soll.«
»Ich hatte Ihnen gesagt, dass Sie damit warten sollen!«
»Warten worauf, Sergeant? Auf Ihren Segen? Darauf, dass die Beweise vom Himmel fallen? Sie haben gejammert, dass Sie sich nicht mit ihm anlegen wollen, also habe ich die Sache in die Hand genommen. Sie jammern, ich handle! Schauen Sie mal, was ich bei ihm gefunden habe!« Ich zeigte ihm die Fotos auf meinem Handy.
»Ein Gemälde?«, schnaubte Gahalowood verächtlich.
»Sehen Sie genau hin.«
»Großer Gott, man könnte meinen, das wäre …«
»Nola, ja! Es gibt ein Gemälde von Nola Kellergan bei Elijah Stern!«
Ich schickte Gahalowood die Fotos per Mail, und er druckte sie großformatig aus. Die Qualität der Bilder war zwar nicht gut, aber jeder Zweifel war ausgeschlossen.
»Tatsächlich, das ist sie! Das ist Nola«, konstatierte er, als er sie mit den alten Fotos aus seiner Akte verglich.
»Es gibt also tatsächlich eine Verbindung zwischen Stern und Nola«, sagte ich. »Nancy Hattaway behauptet, dass Nola ein Verhältnis mit Stern hatte, und – zack, finde ich in seinem Atelier ein Porträt von Nola. Und das ist noch nicht alles. Harrys Haus hat bis 1976 Elijah Stern gehört. Als Nola verschwunden ist, war Stern also noch Eigentümer von Goose Cove. Was für ein wunderbarer Zufall, oder? Kurzum, beantragen Sie einen Durchsuchungsbefehl, und rufen Sie die Kavallerie: Wir führen bei Stern eine Haussuchung durch und lochen ihn ein.«
»Einen Durchsuchungsbefehl? Sind Sie jetzt völlig übergeschnappt, Sie armer Irrer? Auf welcher Grundlage? Ihren Fotos? Die sind illegal! Als Beweisstücke besitzen sie keine Gültigkeit: Sie haben unerlaubt in einem fremden Haus herumgeschnüffelt. Mir sind die Hände gebunden. Wir brauchen etwas anderes, um uns Stern vorzuknöpfen, und bis wir das haben, hat er das Gemälde bestimmt schon verschwinden lassen.«
»Er weiß nicht, dass ich es gesehen habe. Als ich ihn auf Luther Caleb angesprochen habe, hat ihm das gar nicht gepasst. Nola hat er angeblich nur vage gekannt, dabei besitzt er ein Gemälde von ihr, auf dem sie halb nackt ist. Ich weiß nicht, wer das Bild gemalt hat, aber im Atelier gab es noch mehr, und die waren alle mit L.C . signiert. Luther Caleb vielleicht?«
»Diese Sache entwickelt sich in eine Richtung, die mir nicht gefällt, Schriftsteller. Wenn ich mir Stern vorknöpfe und mich blamiere, bin ich erledigt.«
»Ich weiß, Sergeant.«
»Reden Sie mit Harry über Stern. Versuchen Sie, mehr über die Sache herauszubekommen. Und ich nehme mir den Lebenslauf von diesem Luther Caleb vor. Wir brauchen
Weitere Kostenlose Bücher