Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
auf und ging joggen, bevor er sich an die Arbeit setzte.
Wie jeden Morgen lief er bis nach Aurora. Und wie jeden Morgen legte er am Jachthafen eine Pause ein, um ein paar Liegestütze zu machen. Es war noch nicht einmal sechs Uhr. Die Stadt schlief. Er war absichtlich nicht am Clark’s vorbeigelaufen, das um diese Zeit öffnete, weil er Jenny nicht begegnen wollte. Sie war toll und hatte es nicht verdient, so von ihm behandelt zu werden. Eine Weile betrachtete er gedankenverloren den Ozean, der im Morgenlicht in den unglaublichsten Farben badete. Als er seinen Namen hörte, fuhr er zusammen.
»Harry? Es stimmt also: Du stehst so früh auf, um joggen zu gehen?«
Er drehte sich um. Es war Jenny in ihrer Arbeitskleidung aus dem Clark’s. Sie kam näher und versuchte unbeholfen, ihn zu umarmen.
»Ich schaue mir einfach gern den Sonnenaufgang an«, gab er zur Antwort.
Sie lächelte. Wenn er den weiten Weg auf sich nahm, liebte er sie wohl doch ein bisschen, sagte sie sich.
»Willst du im Clark’s einen Kaffee trinken?«, schlug sie vor.
»Danke, aber ich will nicht aus dem Rhythmus kommen …«
Sie ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. »Dann setzen wir uns doch wenigstens kurz.«
»Ich möchte nicht zu lang Pause machen.«
Traurig verzog sie das Gesicht. »Ich habe seit Tagen nichts von dir gehört! Und ins Clark’s kommst du auch nicht mehr …«
»Tut mir leid. Mein Buch nimmt mich ganz in Beschlag.«
»Aber das Leben besteht doch nicht nur aus Büchern! Komm mich ab und zu besuchen, das würde mich freuen. Ich verspreche dir auch, dass meine Mutter dich in Ruhe lässt. Sie hätte dich deine Schulden nicht alle auf einmal bezahlen lassen sollen.«
»Macht nichts.«
»Ich muss jetzt los, wir öffnen um sechs. Möchtest du bestimmt keinen Kaffee?«
»Nein danke.«
»Kommst du vielleicht später vorbei?«
»Ich glaube, eher nicht.«
»Wenn du jeden Morgen hierherkommst, könnte ich am Jachthafen auf dich warten … Ich meine, wenn du willst. Nur, um dir Hallo zu sagen.«
»Mach dir keine Mühe.«
»In Ordnung. Auf jeden Fall arbeite ich heute bis fünfzehn Uhr. Falls du zum Schreiben kommen willst … Ich werde dich nicht stören, versprochen. Ich hoffe, du bist nicht sauer, weil ich mit Travis auf den Ball gegangen bin … Ich liebe ihn nicht, weißt du. Er ist nur ein Freund. Ich … Ich wollte dir etwas sagen, Harry: Ich liebe dich. Ich liebe dich, wie ich noch nie jemanden geliebt habe.«
»Sag das nicht, Jenny …«
Die Rathausuhr schlug sechsmal: Jenny war spät dran. Sie küsste ihn auf die Wange und eilte davon. Sie hätte ihm nicht sagen sollen, dass sie ihn liebte. Sie bereute es bereits und kam sich dumm vor. Während sie die Straße zum Clark’s hinaufging, drehte sie sich um, um ihm zuzuwinken, aber er war schon verschwunden. Wenn er doch noch im Clark’s vorbeikam, sagte sie sich, hieße das, dass er sie ein kleines bisschen liebte, dass nicht alles verloren war. Sie legte einen Schritt zu, aber kurz vor dem Scheitelpunkt der Steigung sprang hinter einem Holzzaun eine große, krumme Gestalt hervor und versperrte ihr den Weg. Jenny stieß einen entsetzten Schrei aus, doch gleich darauf erkannte sie Luther.
»Luther! Hast du mich erschreckt!« Eine Straßenlaterne beleuchtete sein schiefes Gesicht und seine kräftige Statur.
»Waf … Waf will er von dir?«
»Nichts, Luther …«
Er packte ihren Arm: »Mach … Mach dich nicht über mich luftig! Waf will er von dir?«
»Er ist ein Freund! Lass mich jetzt los, Luther! Herrgott, du tust mir weh! Lass mich los, oder ich sage es!«
Er lockerte seine Umklammerung und fragte: »Haft du über meinen Vorflag nachgedacht?«
»Die Antwort lautet Nein, Luther! Ich will nicht, dass du mich malst! Und jetzt lass mich vorbei, oder ich sage, dass du dich hier herumtreibst, und dann kriegst du Ärger.«
Sofort ließ Luther von ihr ab und rannte wie ein wild gewordenes Tier im Morgengrauen davon. Der Schreck saß Jenny in den Knochen und sie fing an zu weinen. Sie hastete zum Restaurant, doch bevor sie durch die Tür trat, wischte sie sich die Augen trocken, damit ihre Mutter, die bereits da war, nichts merkte.
Harry war anschließend einmal durch die ganze Stadt gelaufen und trabte nun die Route 1 nach Goose Cove entlang. Unterwegs dachte er über Jenny nach. Er durfte ihr keine falschen Hoffnungen machen. Sie tat ihm sehr leid. An der großen Kreuzung ließen ihn seine Beine im Stich. Die Muskeln waren bei der Pause am Jachthafen
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