Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
stimmt’s? Hast du Angst? Mach dir keine Sorgen, die Polizei ist überall. Außerdem bin ich mir sicher, dass wir Nola finden.«
»Ich habe keine Angst. Es ist was anderes.«
»Was denn?«
»Das ist nicht wichtig.«
»Ist es wegen Harry Quebert? Deine Mutter hat gesagt, dass er dir gefällt.«
»Kann sein. Vergiss es, Travis, es ist nicht weiter wichtig. Ich muss … Ich muss jetzt in die Küche. Ich bin spät dran, und meine Mutter macht mir bestimmt wieder eine Szene.«
Jenny verschwand durch die Schwingtür und lief geradewegs ihrer Mutter in die Arme, die gerade ein paar Teller herrichtete. »Du kommst schon wieder zu spät, Jenny! Ich bin hier mit allem ganz allein!«
»Entschuldige, Ma.«
Tamara reichte ihr einen Teller mit Kabeljau und Bratkartoffeln. »Bring das bitte Travis.«
»Ja, Ma.«
»Ich finde, er ist ein netter Junge.«
»Ich weiß …«
»Du wirst ihn für Sonntag zum Mittagessen bei uns zu Hause einladen.«
»Zum Mittagessen? Nein, Ma. Ich will nicht. Er gefällt mir überhaupt nicht. Außerdem würde er sich Hoffnungen machen, und das wäre nicht nett von mir.«
»Keine Widerrede! Als du keinen Begleiter für den Ball hattest und er dich aufgefordert hat, hast du dich auch nicht so geziert! Du gefällst ihm sehr, das sieht man, und er würde einen guten Ehemann abgeben. Schlag dir diesen Quebert verdammt noch mal aus dem Kopf! Mit dem wird es nie was! Schreib dir das hinter die Ohren! Quebert ist kein anständiger Mensch! Es ist Zeit, dass du einen Mann findest, und du kannst dich glücklich schätzen, dass dir so ein hübscher Kerl den Hof macht, obwohl du den ganzen Tag in einer Servierschürze herumrennst!«
»Ma!«
Tamara äffte ein quengelndes Kind nach: » Ma! Ma! Hör mir bloß mit diesem Gejammer auf! Bald wirst du fünfundzwanzig! Willst du als alte Jungfer enden? Deine Klassenkameradinnen sind längst alle verheiratet! Und was ist mit dir? Du warst auf der Highschool die Schönheitskönigin! Was in Gottes Namen ist nur los? Ach, was bin ich von meiner Tochter enttäuscht! Ma ist sehr enttäuscht von dir. Wir essen am Sonntag mit Travis zu Mittag, und damit basta. Du bringst ihm jetzt sein Essen und lädst ihn ein. Und danach wischst du die hinteren Tische ab, die kleben schon. Ich werde dich lehren, ständig zu spät zu kommen!«
Mittwoch, 10. September 1975
»Wissen Sie, Herr Doktor, da gibt es diesen reizenden Polizisten, der hinter ihr her ist. Ich habe ihr gesagt, dass sie ihn am Sonntag zum Mittagessen einladen soll. Sie wollte erst nicht, aber ich habe sie gezwungen.«
»Warum haben Sie sie gezwungen, Mrs Quinn?«
Tamara zuckte mit den Schultern und ließ den Kopf auf die Armlehne der Couch zurückfallen. Sie gönnte sich einen Moment Bedenkzeit. »Weil … Weil ich nicht möchte, dass sie allein bleibt.«
»Sie haben Angst, dass Ihre Tochter bis zum Lebensende allein bleiben könnte?«
»Ja, genau! Bis zum Lebensende!«
»Und was ist mit Ihnen? Haben Sie Angst vor der Einsamkeit?«
»Ja.«
»Was fällt Ihnen zum Wort Einsamkeit ein?«
»Einsamkeit ist gleichbedeutend mit dem Tod.«
»Haben Sie Angst vor dem Tod?«
»Schreckliche Angst, Herr Doktor.«
Sonntag, 14. September 1975
Am Mittagstisch der Quinns wurde Travis mit Fragen bombardiert. Tamara wollte alles über die Ermittlungen wissen, die keine Fortschritte machten. Auch Robert hatte die eine oder andere Frage an ihn, aber die paar Mal, die er sich zu Wort meldete, fuhr ihm seine Frau über den Mund: »Sei still, Bobbo. Das ist nicht gut für deinen Krebs.« Jenny wirkte unglücklich und rührte ihr Essen kaum an. Ihre Mutter dagegen führte das große Wort. Als sie den Apfelkuchen servierte, wagte sie sogar die Frage: »Sag mal, Travis, gibt es eigentlich eine Liste von Verdächtigen?«
»Nicht wirklich. Ich muss gestehen, dass wir im Augenblick etwas im Dunklen tappen. Es ist verrückt, aber wir haben nicht den geringsten Anhaltspunkt.«
»Steht Harry Quebert unter Verdacht?«, wollte Tamara wissen.
»Ma!«, empörte sich Jenny.
»Was ist? Darf man in diesem Haus keine Fragen mehr stellen? Wenn ich ihn erwähne, dann habe ich dafür meine Gründe: Er ist nämlich pervers, Travis. Jawohl, pervers! Es würde mich nicht wundern, wenn er etwas mit dem Verschwinden der Kleinen zu tun hätte.«
»Das sind schwere Anschuldigungen, die Sie da vorbringen, Mrs Quinn«, entgegnete Travis. »Solche Dinge darf man nicht einfach behaupten, wenn man keine Beweise hat.«
»Aber ich hatte einen
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