Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Gedanken schnappte er sich die Wagenschlüssel und stürmte nach draußen.
Als er die Haustür aufstieß, stand plötzlich Jenny vor ihm. Sie hatte gerade klingeln und nachsehen wollen, ob alles in Ordnung war. Sie hatte ihn seit Tagen nicht gesehen und sich Sorgen gemacht. Er war abgemagert und sah schrecklich aus. Ja, er trug sogar noch denselben Anzug, den er eine Woche zuvor im Clark’s angehabt hatte. »Harry, was ist los mit dir?«, fragte sie.
»Ich warte.«
»Worauf?«
»Auf Nola.«
Jenny begriff nicht. Sie sagte: »Ach ja, was für eine schreckliche Geschichte! Die ganze Stadt ist erschüttert. Eine Woche ist schon um, und nicht der kleinste Hinweis, nicht die geringste Spur. Harry … du siehst elend aus, ich mache mir Sorgen um dich. Hast du in letzter Zeit etwas gegessen? Ich lasse dir ein Bad ein und mache dir eine kleine Mahlzeit zurecht.«
Er hatte jetzt keine Zeit, sich mit Jenny abzugeben. Er musste den Ort finden, an dem Nola sich versteckt hielt. Ein wenig unsanft schob er Jenny beiseite, ging die paar Holzstufen hinunter, die zum kiesbedeckten Parkplatz führten, und stieg in seinen Wagen. »Ich will nichts«, sagte er durchs offene Fenster. »Ich bin sehr beschäftigt und möchte nicht gestört werden.«
»Beschäftigt? Womit?«, fragte Jenny traurig.
»Mit Warten.« Er fuhr los und war gleich darauf hinter einer Reihe von Kiefern verschwunden. Sie setzte sich auf die Stufen vor dem Haus und fing an zu weinen. Je mehr sie ihn liebte, desto unglücklicher wurde sie.
Im selben Augenblick betrat Travis Dawn mit seinem Rosenstrauß in der Hand das Clark’s. Er hatte Jenny seit Tagen, seit Nola verschwunden war, nicht gesehen. Den Vormittag hatte er zusammen mit den Suchtrupps im Wald verbracht, und als er in seinen Streifenwagen gestiegen war, hatte er auf dem Boden die Blumen gesehen. Zum Teil waren sie schon vertrocknet und krümmten sich merkwürdig, aber ihm war plötzlich danach gewesen, sie Jenny sofort zu bringen, als wäre das Leben viel zu kurz. Also hatte er sich für eine Weile vom Dienst entfernt, um sie im Clark’s zu besuchen, aber sie war nicht da.
Kaum hatte er sich an die Theke gesetzt, kam auch schon Tamara Quinn angesegelt, wie sie es in letzter Zeit immer tat, wenn sie eine Uniform erblickte. »Wie kommt die Suche voran?«, erkundigte sie sich mütterlich besorgt.
»Bislang haben wir nichts gefunden, Mrs Quinn. Gar nichts.«
Seufzend betrachtete sie die müden Gesichtszüge des jungen Polizisten. »Hast du schon zu Mittag gegessen, mein Junge?«
»Äh … Nein, Mrs Quinn. Eigentlich wollte ich Jenny sprechen.«
»Sie ist kurz weg.« Sie brachte ihm ein Glas Eistee und legte ein Tischset aus Papier und Besteck vor ihn hin. Da bemerkte sie die Blumen und fragte: »Sind die für Jenny?«
»Ja, Mrs Quinn. Ich wollte mich vergewissern, dass es ihr gut geht. Bei all den Geschichten in letzter Zeit …«
»Sie ist bestimmt gleich wieder hier. Ich habe sie gebeten, zur Mittagsschicht zurück zu sein, aber wie man sieht, verspätet sie sich. Dieser Kerl bringt sie noch um den Verstand …«
»Wer?«, erkundigte sich Travis. Er spürte, wie sich sein Herz verkrampfte.
»Harry Quebert.«
»Harry Quebert?«
»Ich bin mir sicher, dass sie zu ihm gegangen ist. Ich verstehe nicht, warum sie sich diesen Mistkerl in den Kopf gesetzt hat. Egal, eigentlich sollte ich mit dir nicht darüber reden … Tagesgericht ist heute Kabeljau mit Bratkartoffeln …«
»Perfekt, Mrs Quinn. Danke.«
Sie legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. »Du bist ein guter Junge, Travis. Ich würde mich freuen, wenn Jenny mit jemandem wie dir zusammen wäre.«
Sie ging in die Küche, und Travis trank ein paar Schlucke von seinem Eistee. Er war geknickt.
Wenige Minuten später kam Jenny. Sie hatte sich hastig nachgeschminkt, damit niemandem auffiel, dass sie geweint hatte. Sie ging hinter die Theke und band sich ihre Schürze um. Da bemerkte sie Travis. Lächelnd streckte er ihr den verwelkten Blumenstrauß entgegen.
»Sie sind nicht mehr besonders schön«, entschuldigte er sich, »aber ich wollte sie dir schon vor Tagen schenken. Ich dachte mir, schließlich kommt es auf die Geste an.«
»Danke, Travis.«
»Es sind Wildrosen. Ich kenne eine Stelle in der Nähe von Montburry, wo sie zu Hunderten wachsen. Wenn du willst, fahre ich mal mit dir hin. Ist alles in Ordnung, Jenny? Du siehst nicht gut aus …«
»Geht schon.«
»Diese schreckliche Geschichte geht dir an die Nieren,
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