Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
bei all den anderen unaufgeklärten Vermisstenmeldungen, die sich Jahr für Jahr auf unseren Schreibtischen stapeln. Allein letzte Woche sind dem FBI fünf Jungen im ganzen Land als vermisst gemeldet worden. Wir haben einfach nicht die Zeit, uns um alle zu kümmern.«
»Aber was kann mit dieser Kleinen passiert sein?«, fragte Pratt, der sich nicht damit zufriedengeben wollte, die Hände in den Schoß zu legen. »Ob sie ausgerissen ist?«
»Ausgerissen? Nein. Warum war sie dann voller Blut und wirkte verängstigt, als sie gesehen wurde?«
Rodik zuckte mit den Schultern, und der Mann vom FBI schlug vor, ein Bier trinken zu gehen.
Am nächsten Abend, dem 18. September, gaben Chief Pratt und Captain Rodik beim letzten gemeinsamen Pressetermin bekannt, dass die Suche nach Nola Kellergan eingestellt werde. Der Fall blieb bei der Kriminalpolizei offen. Es gab nicht den kleinsten Hinweis, nicht die geringste Fährte: In fünfzehn Tagen hatte man keine Spur von der kleinen Nola Kellergan gefunden.
Ein paar Freiwillige setzten die Suche unter Chief Pratts Führung noch wochenlang fort und weiteten sie bis an die Grenzen des Bundesstaates aus, doch vergebens. Es war, als hätte Nola Kellergan sich in Luft aufgelöst.
9.
Ein schwarzer Monte Carlo
»Worte sind schön und gut, Marcus. Aber schreiben Sie nicht, um gelesen zu werden. Schreiben Sie, um sich Gehör zu verschaffen.«
Mein Buch machte Fortschritte. Ich verbrachte immer mehr Stunden schreibend, und ich spürte, wie dieses unvergleichliche Gefühl zurückkehrte, das ich für immer verloren geglaubt hatte. Es war, als würde ich endlich einen lebenswichtigen Sinn zurückerlangen, ohne den ich, solange der mich im Stich gelassen hatte, unter einer Funktionsstörung gelitten hatte. Es war, als hätte jemand auf einen Knopf in meinem Gehirn gedrückt und es wieder eingeschaltet; als würde ich wieder leben. So fühlte es sich an, ein Schriftsteller zu sein.
Meine Tage begannen, noch bevor es hell wurde: Die Kopfhörer meines Minidisc-Players im Ohr, lief ich einmal quer durch Concord. Zurück im Hotelzimmer, bestellte ich mindestens einen Liter Kaffee und machte mich an die Arbeit. Dabei konnte ich wieder auf die Hilfe von Denise zählen, die ich mir von Schmid & Hanson zurückgeholt hatte und die gerne wieder in dem Büro auf der Fifth Avenue für mich arbeiten wollte. Per Mail schickte ich ihr Zug um Zug die Seiten, die ich geschrieben hatte, und sie las sie Korrektur. Sobald ein Kapitel fertig war, schickte ich es Douglas, um seine Meinung einzuholen. Es war witzig, wie sehr er diesem Buch entgegenfieberte. Ich wusste, dass er buchstäblich an seinem Computer klebte und auf das nächste Kapitel wartete. Auch versäumte er es nicht, mich immer wieder an den bevorstehenden Abgabetermin zu erinnern, und wiederholte ein ums andere Mal: »Wenn wir nicht rechtzeitig fertig werden, sind wir erledigt!« Er sagte »wir«, obwohl er in der Sache eigentlich nichts riskierte, aber er fühlte sich genauso betroffen wie ich.
Ich glaube, Douglas wurde von Barnaski sehr unter Druck gesetzt und versuchte, diesen Druck von mir fernzuhalten. Barnaski fürchtete, dass ich es ohne fremde Hilfe nicht schaffen würde, den Termin einzuhalten. Er hatte mich deshalb bereits wiederholt angerufen.
»Sie müssen Ghostwriter einschalten, die das Buch für Sie schreiben«, hatte er gesagt, »sonst schaffen Sie es nie. Ich habe Teams an der Hand, die in solchen Fällen einspringen. Sie geben die groben Linien vor, und die legen los.«
»Nie im Leben!«, hatte ich erwidert. »Es ist meine Pflicht, dieses Buch zu schreiben. Niemand wird das für mich erledigen.«
»Ach, Goldman, Sie sind wirklich nicht auszuhalten mit Ihrem Anstand und Ihren guten Vorsätzen! Einfach jeder lässt Bücher heute von anderen schreiben. Selbst Soundso lehnt meine Teams nie ab.«
» Soundso schreibt seine Bücher nicht selbst?«
Er hatte sein typisches dämliches Lachen ausgestoßen. »Natürlich nicht! Wie zum Teufel sollte er sonst diesen Rhythmus durchhalten? Die Leser wollen nicht wissen, wie Soundso seine Bücher schreibt oder wer sie schreibt. Alles, was sie wollen, ist jedes Jahr zum Sommeranfang ein neues Buch von Soundso für ihren Urlaub. Und das geben wir ihnen. Das nennt man geschäftstüchtig.«
»Das nennt man Täuschung der Öffentlichkeit«, hielt ich dagegen.
»Täuschung der Öffentlichkeit … Tsss, Goldman, Sie haben wirklich einen Hang zum Dramatisieren.«
Als ich ihm klargemacht hatte,
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