Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
und bemühte sich, ein bisschen Konversation zu machen. »Es heißt, dass das Rezept von Coca-Cola geheim ist und in Atlanta in einem Safe aufbewahrt wird.«
»Wusste ich nicht.«
Er folgte Jenny in den Vorratsraum, wo sie die beiden Kästen, die sie hereingetragen hatten, aufeinanderstellten. Als Jenny nichts weiter sagte, fuhr er fort: »Wie es aussieht, hebt Coca-Cola die Stimmung der GI s, deshalb schickt man es seit dem Zweiten Weltkrieg kästenweise zu den im Ausland stationierten Truppen. Das habe ich in einem Buch über Coca-Cola gelesen. Ich meine, ich habe es zufällig gelesen. Ich lese nämlich auch ernsthaftere Bücher.«
Sie gingen wieder auf den Parkplatz. Dort blickte Jenny ihm tief in die Augen und sagte: »Travis …«
»Ja, Jenny?«
»Drück mich ganz fest. Nimm mich in den Arm, und drück mich! Ich fühle mich so einsam! Und ich bin so unglücklich! Mir ist, als würde mein Herz erfrieren.«
Er nahm sie in den Arm und drückte sie, so fest er konnte.
»Meine Tochter fängt an, mir Fragen zu stellen, Herr Doktor. Vorhin wollte sie wissen, wohin ich jeden Mittwoch gehe.«
»Und was haben Sie ihr geantwortet?«
»Dass sie sich zum Teufel scheren soll! Und dass sie die Palette mit den Cola-Kästen entgegennehmen soll! Es geht sie nichts an, wo ich bin!«
»Ich höre Ihrer Stimme an, dass Sie wütend sind.«
»Ja! Ja! Natürlich bin ich wütend, Doktor Ashcroft!«
»Wütend auf wen?«
»Auf … Auf mich!«
»Warum?«
»Weil ich sie schon wieder angeschrien habe. Wissen Sie, Herr Doktor, da kriegt man Kinder und will, dass sie die glücklichsten Geschöpfe dieser Welt werden, aber dann macht einem das Leben einen Strich durch die Rechnung.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie fragt mich ständig und in allem nach Rat! Ständig hängt sie an meinem Rockzipfel und fragt: Ma, wie macht man das? Ma, wohin kommt das? Ma hier, Ma dort! Ma! Ma! Ma! Aber ich werde nicht immer für sie da sein! Eines Tages werde ich nicht mehr auf sie aufpassen können, verstehen Sie? Wenn ich daran denke, spüre ich das hier im Bauch! Es ist, als würde sich mein ganzer Magen zusammenkrampfen! Das tut richtig weh und raubt mir den Appetit!«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie Ängste haben, Mrs Quinn?«
»Ja! Ja! Ängste! Schreckliche Ängste! Man versucht alles richtig zu machen und für seine Kinder das Beste zu geben! Aber was werden unsere Kinder tun, wenn wir einmal nicht mehr da sind? Was wird dann aus ihnen? Wie können wir sicher sein, dass sie glücklich sind und ihnen nichts passiert? Wie diesem jungen Ding, Doktor Ashcroft! Die arme Nola, was ist bloß mit ihr? Wo kann sie nur sein?«
Wo konnte sie nur sein? In Rockland war sie nicht. Weder am Strand noch in den Restaurants, noch in dem Geschäft. Nirgends. Er rief das Hotel in Martha’s Vineyard an, um zu fragen, ob das Personal nicht vielleicht ein blondes Mädchen gesehen habe, aber der Rezeptionist, mit dem er sprach, hielt ihn für einen Spinner. Also wartete er, tagein, tagaus.
Er wartete den ganzen Montag.
Er wartete den ganzen Dienstag.
Er wartete den ganzen Mittwoch.
Er wartete den ganzen Donnerstag.
Er wartete den ganzen Freitag.
Er wartete den ganzen Samstag.
Er wartete den ganzen Sonntag.
Er wartete voller Ingrimm und Hoffnung. Sie würde zurückkommen. Und sie würden zusammen fortgehen. Sie würden glücklich werden. Sie war der einzige Mensch, der seinem Leben je einen Sinn gegeben hatte. Mochte man Bücher, Häuser, Musik und auch Menschen verbrennen – nichts war wichtig, solange sie bei ihm war. Er liebte sie, und das bedeutete, dass weder Tod noch Unglück ihm Angst machten, solange sie an seiner Seite war. Also wartete er auf sie. Und wenn die Nacht hereinbrach, schwor er den Sternen, dass er immer warten würde.
Während Harry sich weigerte, die Hoffnung aufzugeben, musste Captain Rodik sich das Scheitern des Polizeieinsatzes eingestehen, und das trotz des enormen Aufwands. Seit mittlerweile über zwei Wochen hatte man Himmel und Erde in Bewegung gesetzt – erfolglos. Bei einer Unterredung mit dem FBI und Chief Pratt konstatierte Rodik bitter: »Die Hunde finden nichts, die Menschen finden nichts. Ich glaube nicht, dass wir sie wiederfinden.«
»Da muss ich Ihnen leider recht geben«, bekräftigte der Beauftragte des FBI . »In solchen Fällen taucht das Opfer normalerweise sofort wieder auf, sei es tot oder lebendig, oder es geht eine Lösegeldforderung ein. Trifft weder das eine noch das andere zu, landet der Fall
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