Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Martha’s Vineyard gewesen sein musste.
Concord, Ende Juli 1975
Es war schon spät. Stern und Luther waren allein zu Hause und spielten auf der Terrasse Schach. Plötzlich klingelte es an der Haustür, und sie fragten sich, wer das um diese Uhrzeit wohl sein konnte. Luther ging öffnen. Kurz darauf kehrte er in Begleitung eines bezaubernden blonden Mädchens mit rot geweinten Augen auf die Terrasse zurück. Nola.
»Guten Abend, Mr Stern«, sagte sie schüchtern. »Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie so überfalle. Ich heiße Nola Kellergan und bin die Tochter des Pfarrers von Aurora.«
»Aurora? Du bist den weiten Weg von Aurora hierhergekommen?«, fragte er. »Wie hast du das gemacht?«
»Ich bin per Anhalter gefahren, Mr Stern. Ich muss Sie unbedingt sprechen.«
»Kennen wir uns?«
»Nein, Sir. Aber ich habe ein äußerst wichtiges Anliegen.«
Stern betrachtete die zierliche junge Frau mit den sprühenden, aber auch traurigen Augen, die zu so später Stunde wegen eines äußerst wichtigen Anliegens zu ihm kam. Er ließ sie in einem bequemen Sessel Platz nehmen, und Caleb brachte ihr ein Glas Limonade und ein paar Kekse.
»Ich höre«, sagte er fast ein wenig amüsiert, nachdem sie die Limonade in einem Zug ausgetrunken hatte. »Was möchtest du mich denn so Wichtiges fragen?«
»Ich bitte Sie nochmals um Entschuldigung, dass ich Sie um diese Uhrzeit störe, Mr Stern. Aber es geht um einen Fall von höherer Gewalt. Ich bin zu Ihnen gekommen, um Sie in aller Vertraulichkeit zu fragen … ob Sie mich einstellen können.«
»Dich einstellen? Als was denn?«
»Als was Sie wollen, Sir. Ich tue alles für Sie.«
»Dich einstellen?«, wiederholte Stern noch einmal. Er verstand nicht recht. »Aber warum? Brauchst du Geld, meine Kleine?«
»Als Gegenleistung sollen Sie Harry Quebert erlauben, in Goose Cove zu bleiben.«
»Harry Quebert will Goose Cove verlassen?«
»Er hat kein Geld mehr. Er hat schon Kontakt zu der Agentur aufgenommen, die das Haus vermietet, weil er die Miete für August nicht mehr bezahlen kann. Aber er muss bleiben! Er hat gerade angefangen, dieses Buch zu schreiben, und ich spüre, dass es ein wundervolles Buch wird! Wenn er weggeht, wird er es nie fertig kriegen! Das wäre das Ende seiner Karriere! Und das wäre jammerschade, Mr Stern! Und dann sind da noch wir! Ich liebe ihn, Mr Stern! Ich liebe ihn, wie ich in meinem Leben nie wieder jemanden lieben werde! Bestimmt kommt Ihnen das albern vor, und Sie sagen sich, dass ich doch erst fünfzehn bin und keine Ahnung vom Leben habe. Mag sein, dass ich vom Leben keine Ahnung habe, Mr Stern, aber ich kenne mein Herz! Ohne Harry bin ich nichts mehr.«
Sie legte die Hände aneinander, als wollte sie beten, und Stern fragte: »Was erwartest du von mir?«
»Ich habe kein Geld, sonst hätte ich Ihnen die Miete für das Haus bezahlt, damit Harry bleiben kann. Aber Sie könnten mich doch einstellen! Ich wäre Ihre Angestellte und würde so lange für Sie arbeiten, bis die Miete für ein paar weitere Monate abgeleistet ist.«
»Ich habe genügend Personal.«
»Ich kann alles tun, was Sie wollen. Alles! Oder Sie lassen mich die Miete nach und nach abzahlen. Hundertzwanzig Dollar habe ich schon!« Sie zog ein paar Geldscheine aus der Tasche. »Das sind meine ganzen Ersparnisse! Samstags arbeite ich immer im Clark’s. Ich werde so lange arbeiten, bis ich Ihnen alles zurückgezahlt habe!«
»Wie viel verdienst du denn?«
Stolz antwortete sie: »Drei Dollar die Stunde! Plus Trinkgeld!«
Stern lächelte. Ihr Ansinnen rührte ihn. Er sah Nola liebevoll an. Im Grunde war er auf die Mieteinnahmen von Goose Cove nicht angewiesen, er konnte Quebert also ruhig noch ein paar Monate dort wohnen lassen. Doch da bat Luther darum, ihn unter vier Augen zu sprechen. Sie zogen sich ins Nebenzimmer zurück.
»Eli«, sagte Caleb, »ich würde fie gern malen. Bitte … Bitte!«
»Nein, Luther. Fang nicht schon wieder damit an …«
»Ich flehe dich an … Laff fie mich malen … Ef ift fo lange her …«
»Warum gerade sie?«
»Weil fie mich an Eleanore erinnert.«
»Schon wieder Eleanore? Jetzt reicht es! Hör auf damit!«
Stern weigerte sich zunächst, aber Caleb ließ nicht locker, und schließlich gab Stern nach. Er kehrte zu Nola zurück, die gerade an einem Keks knabberte.
»Nola, ich habe es mir überlegt«, verkündete er. »Ich bin bereit, Harry Quebert so lange in dem Haus wohnen zu lassen, wie er will.«
Sie fiel ihm um den Hals. »Oh, danke!
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