Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Strafe!‹«
Natürlich hatte Gahalowood Stern gefragt, was für eine Strafe er meinte.
»Meine Strafe dafür, dass ich ein wenig Schuld an ihrem Tod trage!«, hatte Stern hervorgestoßen. »Ich glaube, ich habe in Luther schreckliche Dämonen geweckt, als ich ihm erlaubt habe, sie nackt zu malen. Ich … Ich hatte der Kleinen gesagt, dass sie als Aktmodell für Luther posieren muss, und dadurch erst die Verbindung zwischen den beiden geschaffen. Ich glaube, dass ich vielleicht indirekt für den Tod dieses netten Mädchens verantwortlich bin!«
»Was genau ist passiert, Mr Stern?«
Zuerst hatte Stern geschwiegen. Er war im Kreis herumgelaufen, weil er sich offenbar nicht schlüssig war, ob er erzählen sollte, was er wusste. Doch am Ende hatte er sich zum Reden entschlossen. »Ich habe rasch bemerkt, dass Luther wahnsinnig in Nola verliebt war und herausfinden wollte, warum Nola ihrerseits wahnsinnig in Harry verliebt war. Das hat ihn krank gemacht. Er war von Quebert geradezu besessen, und das ging so weit, dass er anfing, sich in Goose Cove im Wald zu verstecken und ihn zu bespitzeln. Ich habe mitbekommen, dass er immer häufiger nach Aurora fuhr und manchmal den ganzen Tag dort blieb. Da ich das Gefühl hatte, dass die Sache außer Kontrolle geriet, bin ich ihm eines Tages hinterhergefahren. Er hatte sein Auto in der Nähe von Goose Cove im Wald abgestellt. Ich habe meines ein Stück weiter außer Sichtweite geparkt, mich im Wald umgesehen und ihn entdeckt. Er konnte mich aber nicht sehen. Ich habe mich nicht bemerkbar gemacht, aber ich wollte ihm einen Warnschuss verpassen. Also habe ich beschlossen, plötzlich in Goose Cove aufzutauchen, als würde ich Harry überraschend einen Besuch abstatten. Ich bin zurück zur Route 1 und die Auffahrt von Goose Cove entlanggegangen. Dort bin ich mit unschuldiger Miene ums Haus herum auf die Terrasse geschleudert und habe dabei ordentlich Lärm gemacht. Ich habe laut ›Guten Tag, Harry!‹ gerufen, um sicherzugehen, dass Luther mich hörte. Harry hat mich bestimmt für verrückt gehalten. Übrigens erinnere ich mich noch, dass auch er wie der letzte Irre gebrüllt hat. Ich habe ihm erzählt, dass ich meinen Wagen in Aurora hätte stehen lassen, und ihm vorgeschlagen, zusammen mit mir in die Stadt zu fahren und mittagzuessen. Glücklicherweise ist er darauf eingegangen, und wir haben uns auf den Weg gemacht. Dadurch hatte Luther genug Zeit, sich zu verdrücken. Bestimmt hat er einen gehörigen Schrecken bekommen. Wir sind dann zum Essen ins Clark’s gefahren. Dort hat Harry Quebert mir erzählt, dass Luther ihn zwei Tage zuvor in aller Herrgottsfrühe von Aurora nach Goose Cove gefahren hatte, weil Harry beim Joggen plötzlich einen schlimmen Krampf bekommen hatte. Harry hat mich gefragt, was Luther um diese Tageszeit in Aurora treibe. Ich habe das Thema gewechselt, aber ich war sehr besorgt. Das musste ein Ende haben. An dem Abend habe ich Luther befohlen, nicht mehr nach Aurora zu fahren, und ihm Ärger angedroht. Trotzdem hat er weitergemacht. Ein oder zwei Wochen später habe ich zu ihm gesagt, dass ich nicht mehr möchte, dass er Nola malt. Wir hatten einen fürchterlichen Streit. Das war am Freitag, den 29. August 1975. Er hat gesagt, dass er nicht länger für mich arbeiten könne, ist gegangen und hat die Tür hinter sich zugeknallt. Zuerst dachte ich, es wäre nur ein schlechte-Laune-Anfall, und er würde schon wiederkommen. Am nächsten Tag, dem berüchtigten 30. August 1975, bin ich sehr zeitig weggefahren, weil ich ein paar private Verabredungen hatte, aber als ich abends bei meiner Heimkehr feststellte, dass Luther immer noch nicht zurück war, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Also habe ich mich auf die Suche nach ihm gemacht und bin nach Aurora gefahren. Es war mittlerweile etwa zwanzig Uhr. Unterwegs hat mich eine Polizeikolonne überholt. Als ich die Stadt erreichte, habe ich gesehen, dass dort schreckliche Aufregung herrschte. Alle redeten nur noch davon, dass Nola verschwunden war. Ich habe mir die Adresse der Kellergans geben lassen, dabei hätte ich bloß dem Strom aus Neugierigen und Einsatzfahrzeugen folgen müssen, die zu ihrem Haus unterwegs waren. Ich habe eine Weile inmitten der Gaffer dort gestanden und ungläubig das Haus angesehen, in dem dieses nette Mädchen gewohnt hatte, dieses gemütliche weiße Holzhäuschen, in dessen Garten eine Schaukel an einem dicht belaubten Kirschbaum hing. Als es dunkel wurde, bin ich nach Concord
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