Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
tagsüber in seiner Werkstatt finden.«
»Und warum haben wir ihn nicht am Telefon befragt?«
»Weil nichts über ein gutes Gespräch von Mensch zu Mensch geht, Schriftsteller. Das Telefon ist viel zu unpersönlich. Das ist was für Weicheier wie Sie.«
Die Werkstatt lag gleich am Ortseingang von Sagamore. Wanslow steckte gerade kopfüber in einem alten Buick. Er führte uns in sein Büro, scheuchte seinen Cousin hinaus und räumte ein paar Buchhaltungsordner von den Stühlen, damit wir uns setzen konnten. Dann wusch er sich in einem kleinen Waschbecken gründlich die Hände und bot uns Kaffee an. »Nun?«, fragte er, während er die Tassen füllte. »Was ist passiert, dass mich die State Police aus New Hampshire hier besuchen kommt?«
»Wie ich Ihnen gestern schon gesagt habe, ermitteln wir im Mordfall Nola Kellergan«, erklärte Gahalowood. »Insbesondere im Zusammenhang mit einem Unfall, der sich am 26. September 1975 in Ihrem Bezirk ereignet hat.«
»Der schwarze Monte Carlo, oder?«
»Das ist richtig. Woher wissen Sie, dass wir uns dafür interessieren?«
»Sie ermitteln doch im Fall Nola Kellergan, und ich habe mir schon damals gesagt, dass es da einen Zusammenhang gibt.«
»Wirklich?«
»Ja. Deshalb erinnere ich mich überhaupt daran. Ich will damit sagen, dass es Einsätze gibt, die man mit der Zeit vergisst, und solche, die einem im Gedächtnis haften bleiben. Und dieser Unfall gehört zu denen, an die man sich erinnert.«
»Inwiefern?«
»Wissen Sie, wenn man Polizist in einer Kleinstadt wie dieser ist, zählen Verkehrsunfälle zu den größten Einsätzen, die man so hat. Damit will ich sagen, dass die einzigen Toten, die ich in meinem ganzen Berufsleben gesehen habe, Opfer von Verkehrsunfällen waren. Aber dieser Unfall war anders. In den Wochen davor waren wir alle von der Entführung in Kenntnis gesetzt worden, die sich in New Hampshire ereignet hatte. Es wurde nach einem schwarzen Chevrolet Monte Carlo gefahndet, und man hatte uns gebeten, die Augen offen zu halten. Ich erinnere mich noch, dass ich in jenen Wochen auf meinen Streifenfahrten nach ähnlichen Chevrolet-Modellen in allen möglichen Farben Ausschau gehalten und sie kontrolliert habe. Ich habe mir nämlich gesagt, dass sich ein schwarzes Auto leicht umlackieren lässt. Kurzum, ich habe mich in die Sache reingehängt wie alle anderen Polizisten hierzulande auch. Wir wollten die Kleine um jeden Preis finden. Und dann informiert mich die Küstenwache eines Morgens, als ich auf dem Revier bin, dass sie gerade dabei sind, am Fuß der Klippen bei Sunset Cove einen Wagen zu bergen. Dreimal dürfen Sie raten, welches Modell es war …«
»Ein schwarzer Monte Carlo.«
»Volltreffer! Zugelassen in New Hampshire. Und mit einer Leiche darin. Ich weiß noch, wie ich den Wagen untersucht habe. Er war durch den Sturz völlig demoliert, und vom Fahrer war nur noch Brei übrig. Wir haben seinen Ausweis bei ihm gefunden. Er hieß Luther Caleb, daran erinnere ich mich noch gut. Der Wagen war auf ein großes Unternehmen in Concord zugelassen: Stern Limited. Wir haben den Innenraum gründlich durchsucht, aber ohne großen Erfolg. Das Meerwasser hatte ziemliche Schäden angerichtet. Immerhin haben wir reichlich Scherben von Alkoholflaschen gefunden. Im Kofferraum befand sich nur eine Tasche mit ein paar Kleidungsstücken.«
»Reisegepäck?«
»Ja, richtig. Sagen wir, leichtes Gepäck.«
»Und was haben Sie dann gemacht?«, fragte Gahalowood.
»Meinen Job. In den Stunden unmittelbar danach habe ich Ermittlungen angestellt, weil ich wissen wollte, wer dieser Bursche war, was er hier gemacht und wie lange er wohl schon dort unten gelegen hatte. Ich habe Erkundigungen über diesen Caleb eingezogen, und raten Sie mal, was ich herausgefunden habe!«
»Dass bei der Polizei von Aurora eine Anzeige wegen Belästigung gegen ihn vorlag«, trumpfte Gahalowood auf.
»Genau! Mann, woher wissen Sie das denn?«
»Ich weiß es eben.«
»Ab diesem Moment habe ich mir gesagt, dass das kein Zufall mehr sein kann. Zuerst habe ich überprüft, ob ihn jemand als vermisst gemeldet hatte. Aus meiner Erfahrung mit Verkehrsunfällen wusste ich nämlich, dass es immer Angehörige gibt, die sich Sorgen machen, und oft hilft uns das, die Toten zu identifizieren. Aber es gab keine Vermisstenanzeige. Seltsam, oder? Daraufhin habe ich sofort bei der Firma Stern Limited angerufen, um mehr in Erfahrung zu bringen. Ich habe gesagt, dass ich gerade eines ihrer Fahrzeuge gefunden
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