Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
Vom Netzwerk:
war von Natur aus ein schweigsamer Mensch, allein schon wegen seiner zertrümmerten Kiefer. Er malte sie. Das ist alles.«
    »Er hat sie also nicht angerührt?«
    »Niemals! Das hätte ich nicht zugelassen, glauben Sie mir.«
    »Wie oft ist Nola gekommen?«
    »Ich weiß nicht … Etwa zehnmal vielleicht.«
    »Und wie viele Bilder hat er gemalt?«
    »Nur ein Einziges.«
    »Das Bild, das wir beschlagnahmt haben?«
    »Ja.«
    Harry hatte also nur dank Nola in Aurora bleiben können. Aber warum hatte Luther Caleb den Wunsch verspürt, sie zu malen? Nur weil sie Eleanore ähnlich sah? Und warum hatte Stern, der nach seinem eigenen Bekunden bereit gewesen war, Harry das Haus ohne Gegenleistung zu überlassen, Calebs Drängen überhaupt nachgegeben und Nola gezwungen, nackt zu posieren? Auf diese Fragen hatte Gahalowood keine Antwort.
    »Ich habe ihn das gefragt«, erklärte er mir. »Ich habe zu ihm gesagt: ›Mr Stern, etwas verstehe ich noch nicht ganz: Warum wollte Luther unbedingt Nola malen? Sie haben vorhin gesagt, dass es für ihn eine Möglichkeit war, Spaß zu haben … Wollen Sie damit sagen, dass es ihm sexuelles Vergnügen bereitet hat? Außerdem haben Sie eine gewisse Eleanore erwähnt: War das seine ehemalige Freundin?‹ Aber Stern hat mich abgewimmelt. Er hat gesagt, das sei eine komplizierte Geschichte, ich wüsste, was ich wissen müsse, und der Rest sei Vergangenheit. Damit war das Thema für ihn erledigt. Ich war nicht offiziell dort, deshalb konnte ich ihn nicht zwingen, mir zu antworten.«
    »Jenny hat uns erzählt, dass Luther sie auch malen wollte«, erinnerte ich Gahalowood.
    »Was war Luther?«, überlegte er laut. »So etwas wie ein Triebtäter mit dem Pinsel?«
    »Keine Ahnung, Sergeant. Glauben Sie, Stern hat Calebs Drängen nachgegeben, weil er sich zu ihm hingezogen fühlte?«
    »Der Gedanke ist mir auch durch den Kopf gegangen, und ich habe Stern darauf angesprochen. Ich habe ihn gefragt, ob zwischen ihm und Caleb etwas war. Er hat das seelenruhig verneint. ›Ich halte Mr Sylford seit Anfang der 1970er-Jahre die Treue‹, hat er gesagt. ›Für Luther Caleb habe ich nie etwas anderes empfunden als Mitleid. Das war auch der Grund, warum ich ihn eingestellt habe. Er war ein armer Vorstädter aus Portland, der schlimm entstellt und behindert war, weil man ihn brutal zusammengeschlagen hatte. Ein sinnlos zerstörtes Leben. Er verstand etwas von Autos, und ich brauchte jemanden, der sich um meinen Fuhrpark kümmerte und als Fahrer für mich arbeitete. Zwischen uns entwickelte sich rasch ein freundschaftliches Verhältnis. Er war ein prima Kerl, ich darf sagen, dass wir Freunde waren.‹ Wissen Sie, Schriftsteller, gerade dieses ›freundschaftliche‹ Verhältnis zu Luther, wie er es genannt hat, gibt mir zu denken. Ich habe das Gefühl, dass mehr dahintersteckt. Hier geht es nicht um Sex. Ich bin mir sicher, Stern hat nicht gelogen, als er sagte, dass er sich von Caleb nicht angezogen fühlte. Nein, dieses Verhältnis hatte etwas … Ungesundes. Diesen Eindruck habe ich gewonnen, als Stern beschrieben hat, wie er auf Calebs Wunsch eingegangen ist und von Nola verlangt hat, nackt zu posieren. Er fühlte sich dabei hundeelend, und trotzdem hat er es getan, als hätte Caleb irgendeine Macht über ihn. Auch Sylford ist das übrigens nicht entgangen. Er hatte bis zu diesem Augenblick keinen Ton gesagt, sondern einfach nur zugehört, aber als Stern von dem verängstigten, splitternackten Mädchen erzählte, das er vor den Malsitzungen immer begrüßen ging, hat er gesagt: ›Aber Eli, wie konntest du nur? Was ist das für eine Geschichte? Warum hast du mir nie etwas davon erzählt?‹«
    »Warum ist Luther damals eigentlich verschwunden?«, fragte ich.
    »Immer mit der Ruhe, Schriftsteller. Das Beste habe ich mir für den Schluss aufgehoben. Sylford hat unwillkürlich Druck auf Stern ausgeübt. Er war vollkommen fassungslos und hat darüber alles Anwaltsgehabe vergessen. Er fing an zu plärren: ›Erklär mir das, Eli! Warum hast du nie was gesagt? Warum hast du all die Jahre geschwiegen?‹ Besagter Eli wurde ganz klein, wie Sie sich vorstellen können, und hat geantwortet: ›Ja, ich habe geschwiegen, aber ich habe es nicht vergessen! Ich habe dieses Bild dreiunddreißig Jahre lang aufbewahrt! Ich bin jeden Tag ins Atelier gegangen, habe mich auf einen Stuhl gesetzt und sie angesehen. Ich musste ihren Blick, ihre Gegenwart ertragen. Sie hat mich mit diesem Geisterblick angestarrt! Das war meine

Weitere Kostenlose Bücher