Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
einen gemeinsamen Nenner: Luther Caleb. Und sollte er Nola Kellergan tatsächlich ermordet haben, kriegen wir die Bestätigung …«
»… durch die Analyse seiner Handschrift«, kombinierte ich.
»Richtig.«
»Eine letzte Frage, Sergeant: Warum wollte Stern Caleb um jeden Preis schützen?«
»Das wüsste ich auch gern, Schriftsteller.«
Die Ermittlungen im Mordfall Pratt gestalteten sich schwierig: Die Polizei hatte nicht ein verlässliches Indiz und nicht die geringste Spur. Eine Woche nach seiner Ermordung fand die Beisetzung von Nolas sterblichen Überresten statt, die man ihrem Vater schließlich übergeben hatte. Das war am Mittwoch, den 30. Juli 2008. Die Feierlichkeiten, denen ich nicht beiwohnte, wurden am frühen Nachmittag auf dem Friedhof von Aurora abgehalten, in einem unerwarteten Regenschauer und vor einer spärlichen Trauerschar. David Kellergan fuhr mit seinem Motorrad bis ans Grab, und keiner der Anwesenden wagte es, dagegen zu protestieren. Er hatte die Kopfhörer im Ohr und hörte Musik, und seine einzigen – überlieferten – Worte waren: »Warum hat man sie aus der Erde rausgeholt, wenn man sie jetzt wieder reinlegt?« Er vergoss keine Träne.
Ich nahm nicht an der Beerdigung teil, weil ich zum Zeitpunkt etwas tat, was ich für wichtig hielt: Ich besuchte Harry und leistete ihm Gesellschaft. Er saß im lauwarmen Regen mit bloßem Oberkörper auf dem Parkplatz.
»Stellen Sie sich unter, Harry«, sagte ich zu ihm.
»Sie wird gerade beerdigt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Sie wird beerdigt, und ich bin nicht dabei.«
»Es ist besser so. Nach allem, was passiert ist …«
»Zum Teufel mit dem Gerede der Leute! Nola wird beerdigt, und ich bin nicht da, um mich von ihr zu verabschieden, um sie ein letztes Mal zu sehen und bei ihr zu sein. Seit dreiunddreißig Jahren warte ich darauf, sie wiederzusehen, und sei es zum letzten Mal. Wissen Sie, wo ich jetzt gerne wäre?«
»Auf der Beerdigung?«
»Nein. Im Paradies der Schriftsteller.« Er streckte sich auf dem Betonboden aus und verharrte regungslos. Ich legte mich neben ihn. Der Regen ging auf uns nieder. »Marcus, ich möchte tot sein.«
»Ich weiß.«
»Woher wissen Sie das?«
»Freunde spüren so etwas.« Wir schwiegen einen Moment. Dann sagte ich: »Sie haben neulich gesagt, dass wir keine Freunde mehr sein können.«
»Stimmt. Wir nehmen langsam Abschied, Marcus. Es ist so, als wüssten Sie, dass ich bald sterben muss, und als blieben Ihnen noch ein paar Wochen, um sich darauf einzustellen. Das ist der Krebs der Freundschaft.« Er schloss die Augen und breitete die Arme aus wie ein Gekreuzigter. Ich tat es ihm gleich. So blieben wir lange auf dem Betonboden liegen.
Als ich das Motel später an diesem Tag verließ, fuhr ich zum Clark’s, um mit jemandem zu sprechen, der auf Nolas Beerdigung gewesen war. Das Lokal war wie ausgestorben. Es war nur ein Kellner da, der lustlos über den Tresen wischte und mit Mühe und Not die Kraft aufbrachte, den Zapfhahn zu betätigen und mir ein Bier zu machen. Erst da bemerkte ich Robert Quinn, der sich in den hinteren Bereich des Raums verzogen hatte und erdnussknabbernd die Kreuzworträtsel in alten, auf den Tischen liegen gebliebenen Zeitungen löste. Anscheinend versteckte er sich vor seiner Frau. Ich ging zu ihm und gab ihm ein Bier aus. Er nahm die Einladung an und rückte auf seiner Bank ein Stück, um mir Platz zu machen. Eine rührende Geste: Genauso gut hätte ich mich ihm gegenüber auf einen der fünfzig leeren Stühle des Lokals setzen können, aber er rutschte zur Seite, damit ich mich neben ihn auf die Bank setzte.
»Waren Sie auf Nolas Beerdigung?«, fragte ich ihn.
»Ja.«
»Wie war sie?«
»Schlimm, wie die ganze Geschichte. Es waren mehr Journalisten als Angehörige da.«
Wir schwiegen eine Weile, dann fragte er, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen: »Wie läuft’s mit Ihrem Buch?«
»Es geht voran. Aber ich habe gestern noch mal darin gelesen und festgestellt, dass es noch ein paar ungeklärte Fragen gibt, vor allem mit Blick auf Ihre Frau. Sie hat mir gegenüber beteuert, sie habe ein kompromittierendes, von Harry Quebert per Hand geschriebenes Blatt Papier besessen, das auf rätselhafte Weise verschwunden sei. Sie wissen nicht zufällig, was aus diesem Papier geworden ist?«
Er trank einen großen Schluck Bier und verdrückte in aller Ruhe ein paar Erdnüsse, bevor er antwortete. »Verbrannt«, sagte er. »Dieses Unglückspapier ist verbrannt.«
»Was? Woher
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