Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
weiß, Sie finden das bestimmt seltsam, aber … Heute ist im Clark’s etwas vorgefallen, und Sie sind der Einzige, der mir helfen kann.«
Nola schilderte die Szene, die sie etwa zwei Stunden zuvor zufällig miterlebt hatte. Sie hatte Mrs Quinn im Clark’s aufgesucht, um sich den Lohn für die Samstage auszahlen zu lassen, an denen sie vor ihrem Selbstmordversuch gearbeitet hatte. Mrs Quinn hatte selbst gesagt, sie solle vorbeikommen, wann immer es ihr passe. Um Punkt sechzehn Uhr hatte sie das Clark’s betreten, doch sie hatte nur ein paar schweigende Kunden und Jenny angetroffen, die gerade Geschirr wegräumte und ihr mitteilte, dass sich ihre Mutter in ihrem Büro befand, es jedoch nicht für nötig hielt, ihr zu sagen, dass sie nicht allein war. Das »Büro« war der Ort, an dem Tamara Quinn die Buchhaltung machte, die Kassenbons des Tages im Safe verwahrte, sich am Telefon mit säumigen Lieferanten zankte oder ganz einfach nur unter einem fadenscheinigen Vorwand verkroch, wenn sie ihre Ruhe haben wollte. Es war ein enger Raum, an dessen stets geschlossener Tür ein Schild mit der Aufschrift PRIVAT angebracht war. Man erreichte es über den hinter dem Nebenraum verlaufenden Serviceflur, der außerdem zur Personaltoilette führte.
Als Nola vor der Tür stand und gerade anklopfen wollte, hörte sie Stimmen. Dort war jemand bei Tamara. Der Tonlage nach ein Mann. Nola spitzte die Ohren und bekam einen Teil des Gesprächs mit.
»Er ist ein Verbrecher, verstehen Sie?«, sagte Tamara. »Vielleicht sogar ein Triebtäter! Sie müssen etwas unternehmen.«
»Und Sie sind sich sicher, dass Harry Quebert diese Zeilen geschrieben hat?«
Nola erkannte Chief Pratts Stimme.
»Sicherer geht’s nicht«, erwiderte Tamara. »Er hat sie eigenhändig geschrieben. Harry Quebert hat ein Auge auf die kleine Kellergan geworfen und schreibt pornografischen Schund über sie. Sie müssen etwas unternehmen.«
»Gut. Es war richtig, dass Sie mit mir darüber gesprochen haben. Aber Sie sind unerlaubt bei ihm eingedrungen und haben dieses Blatt Papier gestohlen. Im Augenblick kann ich nichts machen.«
»Nichts machen? Und was jetzt? Sollen wir etwa warten, bis dieser Irre der Kleinen etwas antut, damit Sie endlich aktiv werden?«
»Das habe ich nicht gesagt«, stellte der Chief klar. »Ich behalte Quebert im Auge. Und Sie passen in der Zwischenzeit gut auf diesen Zettel auf. Ich kann ihn nicht aufbewahren, ich könnte Ärger bekommen.«
»Ich lege ihn in den Safe«, sagte Tamara. »Da ist er sicher. Niemand hat Zugang dazu. Ich bitte Sie, Chief Pratt, tun Sie etwas. Dieser Quebert ist krimineller Abschaum! Ja, krimineller Abschaum!«
»Regen Sie sich nicht auf, Mrs Quinn. Sie werden schon sehen, was wir hier mit solchen Typen machen.«
Nola hatte Schritte auf die Tür zukommen hören und war, so schnell es ging, aus dem Restaurant verschwunden.
Robert war fassungslos. Er dachte: Die arme Kleine hat mit angehört, dass Harry irgendwelchen Schweinkram über sie schreibt, das war bestimmt ein Schock für sie. Sie brauchte jemanden, dem sie sich anvertrauen konnte, und sie war zu ihm gekommen. Er musste jetzt zeigen, dass er der Situation gewachsen war. Er musste ihr sagen, dass Männer seltsame Vögel waren und ganz besonders Harry Quebert. Er musste ihr erklären, dass sie sich von dem Mann fernhalten und die Polizei einschalten sollte, falls sie Angst bekam, dass er ihr etwas antat.
Hatte er das vielleicht schon getan? Wollte sie ihm vielleicht anvertrauen, dass sie missbraucht worden war? Würde er mit solchen Enthüllungen umgehen können, er, der seiner Frau zufolge nicht einmal den Abendbrottisch richtig decken konnte? Während er ein Stück von seinem Hotdog abbiss, legte er sich ein paar tröstende Worte zurecht, aber er kam nicht dazu, sie ihr zu sagen, denn als er den Mund aufmachte, verkündete sie: »Mr Quinn, Sie müssen mir helfen, an dieses Papier heranzukommen.«
Beinahe hätte er sich an seiner Wurst verschluckt.
»Sie können sich denken, Mr Goldman«, sagte Robert Quinn im Clark’s zu mir, »dass ich mit allem gerechnet hatte, nur nicht damit: Sie wollte, dass ich diesen verfluchten Zettel an mich brachte. Trinken Sie noch was?«
»Gern. Noch mal dasselbe. Sagen Sie, Mr Quinn, macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie aufnehme?«
»Ob es mir etwas ausmacht? Ich bitte Sie! Endlich einmal interessiert sich jemand ein kleines bisschen für das, was ich zu erzählen habe.« Er rief den Kellner und bestellte noch
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