Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Möwenschar flog über Harry hinweg. Er blickte den Vögeln hinterher und beobachtete, wie sie am Strand landeten. Rasch stand er auf, um aus der Küche trockenes Brot zu holen, das er in einer Blechschachtel mit der Aufschrift SOUVENIR AUS ROCKLAND, MAINE aufbewahrte, und ging hinunter an den Strand, um es an die Möwen zu verteilen. Der betagte Hund folgte ihm nur mühsam, er litt unter Arthrose. Harry hockte sich auf die Kieselsteine, um den Vögeln zuzusehen, und der Hund setzte sich neben ihn. Harry streichelte ihn. »Armer alter Storm«, sagte er, »das Laufen fällt dir schwer, was? Bist eben nicht mehr der Jüngste. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich dich gekauft habe. Das war kurz vor Weihnachten 1975. Du warst ein süßes winziges Wollknäuel, kaum größer als meine beiden Fäuste.«
Plötzlich hörte er, wie jemand nach ihm rief. »Harry?«
Auf der Terrasse stand ein Besucher und winkte. Als Harry die Augen zusammenkniff, erkannte er Eric Rendall, den Rektor des Burrows College in Massachusetts. Die beiden Männer hatten sich vor einem Jahr bei einem Vortrag angefreundet und seither Kontakt gehalten.
»Eric? Sie?«, rief Harry.
»Jawohl, ich bin es.«
»Warten Sie, ich komme hoch.«
Sekunden später trat Harry – Storm humpelte hinterher – zu Rendall auf die Terrasse.
»Ich habe versucht, Sie anzurufen«, erklärte der Rektor, um seinen unerwarteten Besuch zu rechtfertigen.
»Ich gehe nicht oft ans Telefon«, entgegnete Harry lächelnd.
»Ist das Ihr neuer Roman?«, erkundigte Rendall sich, als er die auf dem Tisch verstreut liegenden Papiere bemerkte.
»Ja, er soll im Herbst erscheinen. Ich arbeite seit zwei Jahren daran … Ich muss die Druckfahnen lesen, aber wissen Sie, ich glaube, nichts, was ich je schreiben werde, wird wie Der Ursprung des Übels sein.«
Rendall sah Harry mitfühlend an und meinte dann: »Vielleicht schreibt jeder Autor in seinem Leben nur ein einziges Buch.«
Harry nickte und bot seinem Gast Kaffee an. Als sie sich an den Tisch setzten, sagte Rendall: »Harry, ich habe mir erlaubt, Sie aufzusuchen, weil ich mich daran erinnere, dass Sie gesagt haben, Sie hätten Lust, am College zu unterrichten. Nun, in Burrows wird demnächst in der Literaturabteilung ein Lehrstuhl frei. Ich weiß, Burrows ist nicht Harvard, aber wir sind eine angesehene Hochschule. Wenn Sie der Posten interessiert, gehört er Ihnen.«
Harry drehte sich zu seinem sonnenfarbenen Hund um und tätschelte ihm den Hals. »Hast du das gehört, Storm?«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Ich werde Professor.«
6.
Das Barnaski-Prinzip
»Wissen Sie, Marcus, Worte sind schön und gut, aber manchmal sind sie vergebens und reichen nicht. Es kommt der Moment, wo bestimmte Leute Ihnen nicht mehr zuhören wollen.«
»Und was sollte man dann tun?«
»Sie am Kragen packen und ihnen den Ellbogen auf die Gurgel drücken, und zwar ganz fest.«
»Warum?«
»Um sie zu würgen. Wenn Worte nichts mehr bewirken, teilen Sie Schläge aus.«
Anfang August 2008 legte die Staatsanwaltschaft von New Hampshire dem zuständigen Richter unter Berufung auf die jüngsten Ermittlungsergebnisse einen neuen Bericht vor, der zu dem Schluss kam, dass Luther Caleb der Mörder von Deborah Cooper und Nola Kellergan war. Letztere habe er außerdem entführt, erschlagen und in Goose Cove vergraben. Infolge dieses Berichts bestellte der Richter Harry zu einer dringenden Anhörung ein, in deren Verlauf er sämtliche Anklagepunkte gegen ihn endgültig fallen ließ. Durch diese neuerliche Wendung wurde der Fall plötzlich so schillernd wie eine groß aufgemachte Soap-Opera: Der berühmte Harry Quebert wird von seiner Vergangenheit eingeholt und fällt in Ungnade, doch am Ende wird er reingewaschen, nachdem er nur knapp der Todesstrafe entronnen ist und mitansehen musste, wie sein Lebenswerk ruiniert worden ist.
Luther Caleb gelangte zu einer grausigen posthumen Berühmtheit mit der Folge, dass sein Leben in den Zeitungen ausgebreitet wurde und sein Name Eingang in die Galerie der größten Verbrecher in der amerikanischen Geschichte fand. Das öffentliche Interesse kreiste bald nur noch um ihn. Man schnüffelte in seinem Leben herum, die Illustrierten druckten seine persönliche Story und bebilderten sie mit jeder Menge Archivfotos, die sie Angehörigen abgekauft hatten: seine unbeschwerten Jahre in Portland, sein künstlerisches Talent, der brutale Überfall, der Abstieg in die Hölle. Sein Drang, nackte Frauen zu malen,
Weitere Kostenlose Bücher