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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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schäme mich so, weil ich kein Geschenk für Sie habe.«
    »Dein Glück ist mein Geschenk, Nola.« Er schloss sie in die Arme, doch ihm war, als würde sie ihm entgleiten, und schon bald spürte und sah er sie nicht mehr. Er rief nach ihr, aber sie antwortete nicht. Er stand allein mitten im Esszimmer und umarmte sich selbst. Der Welpe war aus der Kiste geklettert und spielte mit seinen Schnürsenkeln.

    Der Ursprung des Übels kam im Juni 1976 heraus. Das Buch hatte sofort nach seinem Erscheinen einen Riesenerfolg. Harry Quebert wurde von der Kritik gefeiert und galt mit seinen fünfunddreißig Jahren fortan als bedeutendste Stimme seiner Generation.
    Zwei Wochen vor dem Erscheinungstermin hatte sich Harrys Verleger höchstpersönlich nach Aurora bemüht, um Harry zu holen, weil ihm klar war, wie das Buch einschlagen würde.
    »Wie ich höre, Quebert, wollen Sie nicht nach New York kommen?«, fragte ihn der Verleger.
    »Ich kann hier nicht weg«, antwortete Harry. »Ich warte auf jemanden.«
    »Sie warten auf jemanden? Was reden Sie da? Ganz Amerika will Sie sehen.«
    »Ich kann hier nicht weg, ich habe einen Hund.«
    »Na, dann nehmen wir ihn eben mit. Wir werden ihn verhätscheln, Sie werden schon sehen. Er bekommt eine Nanny, einen Koch, einen Spazierführer und einen Friseur. Na los, packen Sie Ihren Koffer, und dann auf zum Ruhm, mein Freund!«
    So verließ Harry Aurora, um eine mehrmonatige Lesereise durchs ganze Land anzutreten. Schon bald redete alle Welt von ihm und seinem atemberaubenden Roman. Jenny verfolgte die Geschehnisse von der Küche des Clark’s aus oder in ihrem Schlafzimmer über Radio und Fernsehen. Sie kaufte sämtliche Zeitungen, die über ihn schrieben, und hob alle Artikel feierlich auf. Immer wenn sie sein Buch in einem Geschäft sah, kaufte sie es. Mittlerweile besaß sie bereits mehr als zehn Exemplare davon, die sie allesamt gelesen hatte. Oft fragte sie sich, ob er zurückkommen würde, um sie zu holen. Wenn die Post kam, ertappte sie sich selbst dabei, dass sie einen Brief von ihm erwartete. Wenn das Telefon klingelte, hoffte sie, dass er es war.
    Sie wartete den ganzen Sommer. Wenn ihr ein Auto entgegenkam, das wie seines aussah, fing ihr Herz an zu rasen.
    Sie wartete auch den Herbst noch. Wenn die Tür des Clark’s aufging, stellte sie sich vor, dass er es war, der zu ihr wollte. Er war die Liebe ihres Lebens. Um sich beim Warten abzulenken, rief sie sich die glücklichen Tage in Erinnerung, an denen er sich im Clark’s zum Arbeiten an Tisch 17 gesetzt hatte. Dort, ganz in ihrer Nähe, hatte er das Meisterwerk verfasst, von dem sie Abend für Abend ein paar Seiten las. Wenn er für immer in Aurora bleiben wollte, könnte er jeden Tag hierherkommen: Sie würde weiter hier bedienen, nur um bei ihm sein zu können. Es würde ihr nicht viel ausmachen, bis ans Lebensende Hamburger zu servieren, wenn sie nur an seiner Seite sein konnte. Sie würde diesen Tisch immer für ihn frei halten. Trotz des Gezeters ihrer Mutter ließ sie auf eigene Kosten eine Metallplakette anfertigen und an Tisch 17 festschrauben. Sie trug die Gravur:
    An diesem Tisch verfasste der Schriftsteller Harry Quebert im Sommer 1975 seinen berühmten Roman Der Ursprung des Übels .
    Am 13. Oktober 1976 feierte sie ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag. Harry war gerade in Philadelphia, das wusste sie aus der Zeitung. Seit seiner Abreise hatte sie nichts von ihm gehört. An diesem Abend hielt Travis Dawn, der seit einem Jahr jeden Sonntag zum Mittagessen zu den Quinns kam, im Wohnzimmer im Beisein ihrer Eltern um ihre Hand an. Da sie die Hoffnung inzwischen aufgegeben hatte, nahm sie seinen Antrag an.

    Juli 1985
    Zehn Jahre nach den Ereignissen hatte die Zeit das Schreckgespenst von Nolas Entführung hinweggefegt. In Auroras Straßen hatte das Leben schon seit Langem sein Recht zurückgefordert: Die Kinder spielten wieder lärmend Rollschuhhockey, es wurden erneut Seilspringwettbewerbe ausgetragen, auf den Gehsteigen waren frische Kreidefelder vom Kästchenspringen aufgetaucht, und in der Hauptstraße war das Schaufenster von Familie Hendorfs Laden wieder mit Fahrrädern zugestellt, obwohl eine Handvoll Bonbons dort inzwischen knapp einen Dollar kostete.
    In Goose Cove hatte es sich Harry eines Tages in der zweiten Juliwoche spätvormittags auf der Terrasse bequem gemacht, um das schöne Wetter und die Wärme zu genießen und einige Seiten seines neuen Romans zu überarbeiten. Storm lag neben ihm und schlief. Eine

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