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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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vorschlagen sollte, ein Weilchen zu bleiben, unterließ es dann aber, weil er ihr keine falschen Hoffnungen machen wollte. Er wusste, dass er nie wieder lieben würde. Wenn die Stille dann peinlich wurde, sagte er »Danke« und öffnete die Haustür, um sie zum Gehen aufzufordern.
    Enttäuscht und bekümmert fuhr Jenny nach Hause. Ihr Vater machte ihr eine heiße Schokolade, in der er ein Marshmallow auflöste, und zündete im Wohnzimmer den Kamin an. Sie setzten sich gegenüber dem Feuer aufs Sofa, und sie erzählte ihrem Vater, wie Harry sich in seine Trauer zurückzog. »Warum ist er nur so traurig?«, überlegte sie. »Wenn er so weitermacht, stirbt er.«
    »Keine Ahnung«, entgegnete Robert Quinn.
    Er hatte Angst, aus dem Haus zu gehen. Die wenigen Male, die er Goose Cove verlassen hatte, hatte er bei seiner Rückkehr jedes Mal einen dieser schrecklichen Briefe vorgefunden. Jemand spionierte ihn aus. Jemand wollte ihm Böses. Jemand lauerte darauf, dass er wegging, und steckte dann einen kleinen Briefumschlag in den Türrahmen. Darin befand sich immer dieselbe Nachricht:
    Ich weiß, was Sie dem fünfzehnjährigen Mädchen angetan haben. Und bald weiß es die ganze Stadt.
    Wer war es? Wer hatte etwas gegen ihn? Wer wusste über ihn und Nola Bescheid und wollte ihm schaden? Es machte ihn krank. Jedes Mal, wenn er einen dieser Briefe entdecken musste, bekam er Fieberschübe. Kopfschmerzen und Ängste plagten ihn. Zuweilen litt er sogar unter Übelkeit und Schlaflosigkeit. Er fürchtete sich davor, dass man ihn beschuldigen könnte, Nola etwas angetan zu haben. Wie konnte er seine Unschuld beweisen? Er malte sich die schlimmsten Szenarien aus: der lebenslange Horror des Hochsicherheitstrakts in einem Bundesgefängnis, vielleicht der elektrische Stuhl oder die Gaskammer. Mit der Zeit entwickelte er Angst vor der Polizei. Beim Anblick einer Uniform oder eines Polizeiautos wurde er extrem nervös. Als er eines Tages aus dem Supermarkt kam, erblickte er auf dem Parkplatz einen Streifenwagen der State Police. Der Beamte im Wageninnern folgte ihm mit dem Blick. Harry bemühte sich, ruhig zu bleiben, und ging mit den Einkäufen im Arm zügig zu seinem Auto. Plötzlich vernahm er, wie jemand nach ihm rief. Es war der Polizist. Harry tat, als hörte er ihn nicht. Hinter ihm öffnete sich eine Wagentür: Der Polizist stieg aus. Harry hörte seine Schritte sowie das Klimpern der Handschellen an seinem Gürtel, an dem auch die Waffe und der Schlagstock befestigt waren. Um schneller abhauen zu können, warf er seine Einkäufe in den Kofferraum. Er zitterte, war schweißgebadet, sein Blickfeld war eingeschränkt: Er schob Panik. Du musst ganz ruhig bleiben, redete er sich zu, du musst einsteigen und wegfahren, aber nicht nach Goose Cove. Doch dazu kam er nicht, denn plötzlich spürte er, wie sich eine schwere Hand auf seine Schulter legte.
    Er hatte sich noch nie geprügelt, er wusste gar nicht, wie das ging. Was sollte er tun? Ihn nach hinten wegstoßen, damit er Zeit hatte, ins Auto zu springen und die Flucht zu ergreifen? Ihm eine reinhauen? Sich seine Waffe schnappen und ihn erschießen? Zu allem entschlossen, fuhr er herum.
    Der Polizist hielt ihm eine Zwanzigdollarnote vor die Nase. »Die ist Ihnen aus der Tasche gefallen, Sir. Ich habe nach Ihnen gerufen, aber Sie haben mich nicht gehört. Ist alles in Ordnung, Sir? Sie sind ganz bleich …«
    »Geht schon«, erwiderte Harry. »Ich … Ich war ganz in Gedanken und … Danke, jedenfalls. Jetzt … Jetzt muss ich los.«
    Der Polizist grüßte mit einer freundlichen Geste und kehrte zu seinem Wagen zurück. Harry zitterte am ganzen Körper.
    Nach diesem Zwischenfall meldete er sich zu einem Boxkurs an und trainierte fleißig. Und er beschloss, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Nach einigen Erkundigungen kontaktierte er Dr. Roger Ashcroft in Concord, der als einer der besten Psychiater der Gegend galt. Sie vereinbarten eine Sitzung pro Woche, immer am Mittwochvormittag von zehn Uhr vierzig bis elf Uhr dreißig. Er erzählte Dr. Ashcroft nicht von den Briefen, wohl aber von Nola, allerdings ohne ihren Namen zu nennen. Zum ersten Mal konnte er jemandem von ihr erzählen. Das tat ihm unglaublich gut. Ashcroft saß in seinem Polstersessel, hörte ihm aufmerksam zu und trommelte jedes Mal mit den Fingern auf seine Schreibunterlage, bevor er zu einer Deutung ansetzte.
    »Ich glaube, ich sehe Tote«, erklärte Harry.
    »Ihre Freundin ist also tot?«, folgerte

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