Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Ashcroft.
»Ich weiß es nicht … Das ist es ja gerade, was mich verrückt macht.«
»Ich glaube nicht, dass Sie verrückt sind, Mr Quebert.«
»Manchmal gehe ich an den Strand und rufe ihren Namen. Und wenn ich keine Kraft mehr zum Rufen habe, setze ich mich in den Sand und weine.«
»Ich glaube, Sie befinden sich in einem Trauerprozess. In Ihrem Innern kämpft ein rationaler, klar denkender, bewusster Teil gegen einen anderen Teil, der nicht akzeptieren will, was in seinen Augen inakzeptabel ist. Wenn die Wirklichkeit allzu schwer zu ertragen ist, versuchen wir, sie zu verdrängen. Ich könnte Ihnen ein Beruhigungsmittel verschreiben, das Ihnen hilft, sich zu entspannen.«
»Nein, bloß nicht! Ich muss mich auf mein Buch konzentrieren.«
»Erzählen Sie mir von dem Buch, Mr Quebert.«
»Es ist eine Liebesgeschichte.«
»Und worum geht es genau in dieser Geschichte?«
»Um die unmögliche Liebe zweier Menschen.«
»Ist es die Geschichte von Ihnen und Ihrer Freundin?«
»Ja. Ich hasse die Bücher.«
»Warum?«
»Sie tun mir weh.«
»Die Zeit ist um. Wir machen nächste Woche weiter.«
»Gut. Danke, Dr. Ashcroft.«
Eines Tages begegnete er im Wartezimmer Tamara Quinn, die gerade aus dem Behandlungszimmer kam.
Das Manuskript wurde Mitte November fertig, an einem Nachmittag, der so düster war, dass man nicht wusste, ob es Tag oder Nacht war. Harry schob den dicken Papierstoß zurecht und las noch einmal aufmerksam den Titel, der in Großbuchstaben auf dem Deckblatt stand:
DER URSPRUNG DES ÜBELS
Von Harry L. Quebert
Er verspürte plötzlich das Bedürfnis, jemandem davon zu erzählen, und deshalb fuhr er ins Clark’s, um Jenny zu sehen.
»Ich habe mein Buch fertig«, verkündete er euphorisch. »Ich bin nach Aurora gekommen, um ein Buch zu schreiben, und es ist vollbracht. Es ist fertig, fertig, fertig!«
»Das ist ja phantastisch«, erwiderte Jenny. »Es ist bestimmt ein großartiges Buch. Was hast du jetzt vor?«
»Ich fahre für eine Weile nach New York, um es einigen Verlagen anzubieten.«
Er reichte Kopien des Manuskripts bei fünf großen New Yorker Verlagen ein. Knapp einen Monat später hatten sich alle fünf bei ihm gemeldet. Sie waren überzeugt, dass es sich um ein Meisterwerk handelte, und überboten sich gegenseitig beim Ankauf der Rechte. Für Harry begann ein neues Leben. Er suchte sich einen Anwalt und einen Agenten. Wenige Tage vor Weihnachten unterschrieb er bei einem der Verlage schließlich einen sensationellen Vertrag über einen Betrag von hunderttausend Dollar. Er war auf dem Weg zum Ruhm.
Am 23. Dezember kehrte er am Steuer eines nagelneuen Chrysler Cordoba nach Goose Cove zurück. Er wollte Weihnachten unbedingt in Aurora verbringen. Im Türrahmen klemmte ein anonymer Brief, der offenbar schon vor mehreren Tagen hineingesteckt worden war. Es war der letzte, den er bekommen sollte.
Den nächsten Tag widmete er der Vorbereitung des Abendessens: Er briet einen riesigen Truthahn, bräunte Bohnen in Butter, machte Röstkartoffeln und bereitete einen Schokoladenkuchen mit Crème fraîche zu. Der Plattenspieler spielte Madama Butterfly . Er deckte den Tisch für zwei, gleich neben dem Weihnachtsbaum.
Unter alldem bemerkte er hinter der beschlagenen Fensterscheibe nicht Robert Quinn, der ihn beobachtete und sich an diesem Tag schwor, mit seinen Briefen aufzuhören.
Nach dem Essen entschuldigte sich Harry bei dem leeren Teller, dem er gegenüber saß, und verschwand kurz im Arbeitszimmer. Gleich darauf kehrte er mit einem großen Karton zurück.
»Ist das für mich?«, rief Nola.
»Es war nicht leicht, ihn aufzutreiben, aber am Ende hat es geklappt«, antwortete Harry und stellte den Karton auf den Boden.
Nola kniete sich neben die Kiste. »Was kann das sein? Was kann das nur sein?«, sagte sie immer wieder und hob die Seitenklappen des Kartons hoch, der nicht zugeklebt war. Eine Schnauze kam zum Vorschein und gleich darauf ein kleiner gelber Kopf. »Ein Hundebaby! Es ist ein Hundebaby in der Farbe der Sonne! Oh, Harry, liebster Harry! Danke! Danke!« Sie hob den Welpen aus der Kiste und nahm ihn auf den Arm. Es war ein knapp zweieinhalb Monate alter Labrador. »Du sollst Storm heißen!«, erklärte sie dem Hund. »Storm! Storm! Du bist der Hund, von dem ich immer geträumt habe!«
Sie setzte den Welpen auf den Boden. Japsend machte er sich daran, die neue Umgebung zu erkunden. Nola fiel Harry um den Hals. »Danke, Harry, ich bin mit Ihnen so glücklich! Aber ich
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