Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Wieso?«
»Weil es niemanden mehr gibt, auf den er wartet.«
»Auf wen hat er denn gewartet?«
»Auf Nola.«
»Aber Nola ist tot.«
»Genau.«
Roth zuckte mit den Schultern. »Im Grunde hatte ich von Anfang an recht«, verkündete er. »Die kleine Kellergan war eine Schlampe. Sie hat die ganze Stadt drüberrutschen lassen, und Harry war einfach der Gelackmeierte, der gutmütige, leicht vertrottelte Romantiker, der sich selbst ins Knie geschossen hat, weil er ihr Liebesbriefe, ja sogar ein ganzes Buch geschrieben hat.« Er lachte dreckig.
Das war zu viel! Grimmig packte ich ihn mit einer Hand am Kragen und stieß ihn gegen die Wand. Dabei fielen ein paar Parfümflaschen zu Boden und zerbrachen. Dann drückte ich ihm meinen freien Unterarm auf die Gurgel. »Nola hat Harrys Leben verändert!«, schrie ich. »Sie hat sich für ihn aufgeopfert! Ich verbiete Ihnen, überall herumzuerzählen, dass sie eine Schlampe war.«
Er versuchte vergeblich sich zu befreien. Ich hörte, wie er mit erstickter Stimme nach Luft rang. Um uns herum scharten sich Neugierige, und ein paar Sicherheitsleute kamen angelaufen. Schließlich ließ ich ihn los. Sein Kopf war rot wie eine Tomate, sein Hemd verrutscht. Er stammelte: »Sie … Sie sind ja verrückt geworden, Goldman! Total verrückt! Wie Quebert! Ich könnte Sie anzeigen, das wissen Sie!«
»Machen Sie, was Sie wollen, Roth!«
Wutentbrannt stampfte er davon und rief aus sicherer Entfernung: »Sie haben doch selbst gesagt, dass sie eine Schlampe war, Goldman! Das stand in Ihrem Manuskript, oder etwa nicht? Es ist alles Ihre Schuld!«
Mit meinem Buch wollte ich ja gerade die Katastrophe wiedergutmachen, die jene durch die Presse verbreiteten Seiten ausgelöst hatten. Bis zur Veröffentlichung blieben noch anderthalb Monate. Roy Barnaski stand total unter Strom: Er rief mich mehrmals am Tag an, um mir mitzuteilen, wie aufgeregt er war.
»Es ist alles perfekt!«, rief er bei einem unserer Gespräche ins Telefon. »Das Timing könnte nicht besser sein! Der Bericht des Staatsanwalts, der gerade jetzt herauskommt, der ganze Rummel … Das ist ein unglaublicher Glücksfall, weil ja in drei Monaten Präsidentschaftswahlen sind und sich dann sowieso kein Mensch mehr für Ihr Buch oder diese Sache interessiert. Wissen Sie, der schier grenzenlosen Nachrichtenflut steht ein begrenztes Zeitfenster gegenüber. Die Masse an Nachrichten ist unermesslich, aber die Zeit, die man für sie erübrigt, ist beschränkt und nicht ausdehnbar. Wie viel Zeit widmet ihnen der gemeine Sterbliche pro Tag? Eine Stunde? Zwanzig Minuten Zeitunglesen morgens in der U-Bahn, eine halbe Stunde Internet im Büro und eine Viertelstunde CNN abends vor dem Schlafengehen. Aber es gibt unendlich viel Stoff, der dieses Zeitfenster füllen will! Es geschehen eine Menge scheußlicher Dinge auf dieser Welt, aber wir sprechen nicht darüber, weil wir keine Zeit haben. Wir können nicht über Nola Kellergan und über den Sudan reden, wir haben nicht die Zeit dazu, verstehen Sie? Aufmerksamkeitsspanne: fünfzehn Minuten CNN am Abend. Danach wollen die Leute ihre Lieblingsserie sehen. Alles ist eine Frage der Prioritäten.«
»Sie sind ein Zyniker, Roy«, warf ich ihm an den Kopf.
»Nein, Herrgott, nein! Hören Sie auf, mir alle Übel dieser Welt anzudichten! Ich lebe einfach nur in der Realität. Sie dagegen sind ein Schmetterlingsjäger, ein Traumtänzer, der durch die Steppe läuft und nach Inspiration sucht. Sie könnten mir ein Meisterwerk über den Sudan schreiben – ich würde es nicht verlegen. Weil nämlich kein Hahn danach kräht! Das interessiert die Leute nicht! Halten Sie mich von mir aus für ein Schwein, aber ich bediene nun mal die Nachfrage. Heute reden alle über Harry Quebert und Nola Kellergan, und das muss man ausnützen, weil in zwei Monaten alle über den neuen Präsidenten reden werden, und dann wird Ihr Buch Schnee von gestern sein. Aber bis dahin haben wir bereits so viele Exemplare davon verkauft, dass Sie in Ihrem neuen Haus auf den Bahamas längst das süße Leben genießen.«
Es war nicht zu leugnen: Barnaski besaß das Talent, die Medien vor seinen Karren zu spannen. Schon jetzt war mein Buch in aller Munde, und je mehr darüber geredet wurde, desto mehr heizte er diese Mund-zu-Mund-Propaganda an, indem er die Werbekampagnen verstärkte. Der Fall Harry Quebert , das Eine-Million-Dollar-Buch – so nannte es die Presse. Mir wurde klar, dass die astronomische Summe, die er mir angeboten und
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