Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
hinter vorgehaltener Hand, damit niemand sie hörte. Doch plötzlich bemerkte Stefanie, dass mit Nola etwas nicht stimmte. Ihr Blick hatte sich verändert, und sie hörte ihr nicht mehr zu.
»Nol’, ist alles in Ordnung?«, fragte Stefanie.
Keine Antwort. Stefanie wiederholte ihre Frage, und schließlich sagte Nola zu ihr: »Ich … Ich muss nach Hause.«
»Schon? Warum denn?«
»Mutter will, dass ich heimkomme.«
Stefanie glaubte, sie hätte sich verhört. »Hä? Deine Mutter?«
Nola sprang in Panik auf. Sie sagte noch einmal: »Ich muss jetzt gehen!«
»Aber … Nola! Deine Mutter ist tot!«
Nola stürzte zur Tür des Lagerraums, und als Stefanie sie am Arm festhalten wollte, fuhr sie herum und klammerte sich an ihr Kleid. »Du hast ja keine Ahnung, was meine Mutter mit mir macht!«, rief sie verängstigt. »Wenn ich böse bin, werde ich bestraft!«
Und dann lief sie davon. Verstört blieb Stefanie zurück. Abends schilderte sie zu Hause ihrer Mutter die Szene, aber Mrs Hendorf glaubte ihr kein Wort. Sie strich ihr liebevoll über den Kopf. »Ich weiß nicht, wo du diese Geschichten herhast, mein Schatz. Jetzt hör auf, dummes Zeug zu reden, und geh dir die Hände waschen. Dein Vater ist gerade heimgekommen, und er hat Hunger. Wir essen gleich.«
Am nächsten Tag wirkte Nola in der Schule wie immer und gab sich so, als wäre nichts gewesen. Stefanie traute sich nicht, den Vorfall vom Vortag zu erwähnen. Da ihr die Sache aber keine Ruhe ließ, sprach sie etwa zehn Tage später Reverend Kellergan direkt darauf an. Sie besuchte ihn im Pfarrbüro, wo er sie sehr freundlich wie immer empfing. In der Annahme, dass sie ihn in seiner Eigenschaft als Pfarrer aufsuchte, bot er ihr einen Saft an und hörte ihr aufmerksam zu. Als sie ihm dann erzählte, was sie erlebt hatte, glaubte auch er ihr nicht. »Du hast dich bestimmt verhört«, meinte er.
»Ich weiß, es klingt verrückt, Reverend, aber es stimmt!«
»Das ist doch Unsinn. Warum sollte Nola dir so einen Unfug erzählen? Weißt du denn nicht, dass ihre Mutter tot ist? Willst du uns allen Kummer machen?«
»Nein, aber …«
Als Stefanie nicht locker ließ, verwandelten sich die Gesichtszüge des Reverends. So hatte sie ihn noch nie erlebt: Zum ersten Mal blickte der sonst so herzliche Pastor finster, ja fast Furcht einflößend drein. »Ich will nichts mehr davon hören!«, herrschte er sie an. »Du wirst weder mit mir noch mit sonst jemandem darüber reden, hörst du? Sonst erzähle ich deinen Eltern, dass du ein kleines Lügenmaul bist. Und dass ich dich in der Kirche beim Stehlen erwischt habe. Ich werde ihnen sagen, dass du mir fünfzig Dollar gestohlen hast. Willst du das? Nein? Dann sei ein braves Mädchen.«
Stefanie unterbrach ihren Bericht. Sie spielte einen Augenblick mit den Fotos und wandte sich dann an mich.
»Also habe ich nie wieder darüber gesprochen«, sagte sie. »Aber ich habe diese Szene nie vergessen. Im Lauf der Jahre habe ich mir eingeredet, dass ich mich wohl tatsächlich verhört oder etwas falsch verstanden haben muss. Und dann kommt Ihr Buch heraus, und ich lese von ihrer brutalen und ziemlich lebendigen Mutter! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was das in mir ausgelöst hat! Wie Sie das geschafft haben, Mr Goldman! Als die Zeitungen vor ein paar Tagen geschrieben haben, dass Sie Unfug erzählen, habe ich mir gesagt, dass ich Kontakt zu Ihnen aufnehmen muss. Ich weiß nämlich, dass Sie die Wahrheit sagen.«
»Aber was denn für eine Wahrheit?«, rief ich. »Nolas Mutter ist schon seit Ewigkeiten tot.«
»Das weiß ich. Aber ich weiß auch, dass Sie recht haben.«
»Glauben Sie, Nola wurde von ihrem Vater geschlagen?«
»Das hat man sich jedenfalls erzählt. In der Schule sind allen die blauen Flecken auf ihrem Körper aufgefallen. Aber wer hätte sich schon mit unserem Reverend angelegt? 1975 hat man sich in Aurora nicht in die Angelegenheiten anderer Leute eingemischt. Außerdem waren es andere Zeiten. Damals hat jeder ab und zu mal eine Ohrfeige kassiert.«
»Fällt Ihnen in Bezug auf Nola oder das Buch noch irgendetwas ein?«, fragte ich.
Sie dachte kurz nach. »Nein«, entgegnete sie dann. »Das heißt … Es war ganz witzig, nach all den Jahren zu erfahren, dass Harry Quebert derjenige war, in den Nola damals verliebt war.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, ich war damals ein naives junges Ding … Nach diesem Vorfall habe ich mich nicht mehr so oft mit Nola getroffen. Aber ich bin ihr in dem Sommer, in dem sie
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