Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Ansammlung von Gebäuden brachte und uns das Haus des Pfarrers zeigte.
Wir wurden liebenswürdig von einer dicken netten Frau empfangen und in ein Büro geführt, in dem sich wenige Minuten später Lewis zu uns gesellte. Ich wusste, dass er schon in den Neunzigern sein musste, aber er wirkte zwanzig Jahre jünger. Er machte einen eher sympathischen Eindruck, ganz anders als in Horowitz’ Beschreibung.
»Polizei?«, fragte er, während er uns nacheinander begrüßte.
»State Police von New Hampshire und Alabama«, erklärte Gahalowood. »Wir ermitteln im Mordfall Nola Kellergan.«
»Ich habe den Eindruck, dass man in letzter Zeit über nichts anderes mehr redet.«
Als er mir die Hand drückte, musterte er mich kurz und fragte dann: »Sie sind nicht …?«
»Doch, ist er«, antwortete Gahalowood genervt.
»Also dann … Was kann ich für Sie tun, meine Herren?«
Gahalowood begann die Befragung. »Pfarrer Lewis, wenn ich mich nicht irre, kannten Sie Nola Kellergan.«
»Ja, das heißt, ich kannte vor allem ihre Eltern gut. Reizende Leute, sie standen unserer Gemeinde sehr nahe.«
»Was ist das für eine Gemeinde?«
»Wir gehören der Pfingstbewegung an, Sergeant, nicht mehr und nicht weniger. Wir haben christliche Ideale und teilen diese. Ja, ich weiß, manche bezeichnen uns als Sekte. Wir bekommen zweimal im Jahr Besuch vom Sozialamt, das überprüft, ob unsere Kinder auch die Schule besuchen, ordentlich ernährt oder misshandelt werden. Außerdem wird kontrolliert, ob wir Waffen besitzen oder weiße Suprematisten sind. Allmählich wird es albern. Unsere Kinder besuchen alle die örtliche Highschool, ich habe in meinem Leben noch nie ein Gewehr besessen und unterstütze in unserem Bezirk aktiv Barack Obamas Wahlkampf. Was genau wollen Sie wissen?«
»Was 1969 passiert ist.«
»Apollo 11 ist auf dem Mond gelandet«, antwortete Lewis. »Ein entscheidender Sieg Amerikas über den russischen Feind.«
»Sie wissen genau, was ich meine, nämlich den Brand bei den Kellergans. Was ist damals wirklich passiert?«
Obwohl ich noch kein einziges Wort gesagt hatte, betrachtete Lewis mich lange und wandte sich dann an mich: »Ich habe Sie in letzter Zeit oft im Fernsehen gesehen, Mr Goldman. Ich halte Sie für einen guten Schriftsteller, aber warum haben Sie sich nicht über Louisa Kellergan erkundigt? Ich könnte mir vorstellen, dass Sie deshalb hier sind. Habe ich recht? Ihr Buch hat weder Hand noch Fuß, und jetzt herrscht – um einen recht profanen Ausdruck zu gebrauchen – Panik an Bord. Liege ich richtig? Was suchen Sie hier? Eine Rechtfertigung für Ihre Lügen?«
»Die Wahrheit«, entgegnete ich.
Er lächelte betrübt. »Die Wahrheit? Welche, Mr Goldman? Die Wahrheit Gottes oder die der Menschen?«
»Ihre. Wie lautet Ihre Wahrheit über den Tod von Louisa Kellergan? Hat David Kellergan seine Frau getötet?«
Pfarrer Lewis erhob sich aus seinem Sessel und schloss die Tür zu seinem Büro. Dann stellte er sich ans Fenster und blickte nach draußen. Die Szene erinnerte mich an unseren Besuch bei Chief Pratt. Gahalowood gab mir mit einem Wink zu verstehen, dass er wieder das Ruder übernahm.
»David war so ein guter Mann«, sagte Lewis schließlich leise.
»War?«, hakte Gahalowood nach.
»Ich habe ihn seit neununddreißig Jahren nicht gesehen.«
»Hat er seine Tochter geschlagen?«
»Niemals! Er hatte ein reines Herz und war ein Mann des Glaubens. Als er in Mt Pleasant anfing, waren die Bankreihen leer. Ein halbes Jahr später war die Kirche jeden Sonntagmorgen brechend voll. Er hätte seiner Frau oder Tochter nie etwas antun können.«
»Was waren sie für Menschen?«, fragte Gahalowood sanft. »Wer waren die Kellergans?«
Pfarrer Lewis rief nach seiner Frau und bestellte Tee mit Honig für alle. Dann setzte er sich wieder in seinen Sessel und sah uns der Reihe nach an. Sein Blick war mild, seine Stimme warm. Er forderte uns auf: »Schließen Sie die Augen, meine Herren. Wir befinden uns jetzt im Jahr 1953 in Jackson, Alabama.«
Jackson, Alabama, Januar 1953
Es war eine Geschichte, wie Amerika sie liebt. Eines Tages zu Beginn des Jahres 1953 betrat ein junger Pfarrer aus Montgomery die baufällige Mt-Pleasant-Kirche im Stadtzentrum von Jackson. Es war ein stürmischer Tag: Vom Himmel ergossen sich Sturzbäche, Böen von ungewohnter Heftigkeit fegten durch die Straßen, die Bäume schwankten, Zeitungen, die ein Windstoß einem unter die Markise eines Ladens geflüchteten Straßenverkäufer
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