Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
verschwunden ist, regelmäßig über den Weg gelaufen. Im Sommer 1975 habe ich nämlich häufig im Geschäft meiner Eltern ausgeholfen. Das damalige Postamt lag genau gegenüber, und stellen Sie sich vor: Ich bin Nola ständig begegnet. Sie hat regelmäßig Briefe aufgegeben. Das wusste ich, weil sie dabei immer am Geschäft vorbeigekommen ist und ich sie gelöchert habe. Eines Tages hat sie die Katze aus dem Sack gelassen und mir erzählt, dass sie wahnsinnig in jemanden verliebt sei und sie sich schrieben. Sie wollte mir aber nie sagen, wer es war. Ich dachte, es wäre Cody, einer aus der Zehnten, der im Basketballteam war. Den Namen des Empfängers konnte ich nie erkennen, aber einmal habe ich gesehen, dass es eine Adresse in Aurora war. Ich habe mich gefragt, was das soll: jemandem, der in Aurora wohnt, aus Aurora zu schreiben.«
Als wir aus Stefanie Larjinjiaks Haus traten, sah mich Gahalowood fragend an. »Und nun, Schriftsteller?«
»Dieselbe Frage wollte ich Ihnen gerade stellen, Sergeant. Was sollen wir jetzt tun?«
»Was wir schon längst hätten tun sollen: nach Jackson in Alabama fahren. Sie haben damals die richtige Frage gestellt, Schriftsteller: Was ist in Alabama passiert?«
4.
Sweet home Alabama
»Wenn das Buch dem Ende zugeht, Marcus, bieten Sie Ihrem Leser in letzter Minute einen Überraschungseffekt.«
»Warum?«
»Warum? Weil man den Leser bis zum Schluss in Atem halten muss. Das ist wie beim Kartenspielen: Ein paar Asse müssen Sie bis zum Ende im Ärmel behalten.«
Jackson, Alabama, 28. Oktober 2008
Wir landeten in Alabama.
Bei unserer Ankunft am Flughafen von Jackson wurden wir von einem jungen Officer der State Police namens Philip Thomas in Empfang genommen, den Gahalowood ein paar Tage zuvor kontaktiert hatte. Kerzengerade stand er mit tief ins Gesicht gezogener Mütze in seiner Uniform in der Ankunftshalle. Er begrüßte Gahalowood respektvoll, dann sah er mich an und schob die Mütze leicht nach hinten.
»Kenne ich Sie nicht schon irgendwoher?«, fragte er. »Aus dem Fernsehen vielleicht?«
»Schon möglich«, antwortete ich.
»Ich gebe Ihnen einen Tipp«, schaltete sich Gahalowood ein. »Das Buch, über das im Moment alle reden, das ist von ihm. Nehmen Sie sich vor ihm in Acht, er bringt es fertig und richtet ein Chaos an, wie Sie es sich im Traum nicht vorstellen können.«
»Dann sind die Kellergans also dieselben, die Sie in Ihrem Buch beschreiben?«, fragte mich Officer Thomas und versuchte sein Erstaunen zu überspielen.
»Exakt«, antwortete Gahalowood für mich. »Halten Sie sich von diesem Kerl fern, Officer. Ich selbst habe ein friedliches Leben geführt, bis ich ihm begegnet bin.«
Officer Thomas nahm seine Rolle sehr ernst. Auf Gahalowoods Bitte hin hatte er für uns eine kleine Akte über die Kellergans zusammengestellt, die wir in einem Restaurant in Flughafennähe durchgingen.
»David J. Kellergan wurde 1923 in Montgomery geboren«, erklärte uns Thomas. »Er hat dort Theologie studiert, ist dann Pfarrer geworden und nach Jackson gekommen, um die Gemeinde Mt Pleasant zu übernehmen. 1955 hat er Louisa Bonneville geheiratet. Sie haben ein Haus in einem ruhigen Viertel im Norden der Stadt bewohnt. 1960 hat Louisa Kellergan eine Tochter zur Welt gebracht: Nola. Weiter gibt es nichts zu berichten. Eine unauffällige, fromme Familie aus Alabama – bis zu der Tragödie im Jahr 1969.«
»Der Brand?«, fragte Gahalowood.
»Genau. Eines Nachts ist ihr Haus abgebrannt. Louisa Kellergan ist in den Flammen umgekommen.«
Thomas hatte Kopien von den Zeitungsartikeln aus jener Zeit beigelegt.
TÖDLICHES FEUER IN DER LOWER STREET
Gestern Abend kam bei einem Hausbrand in der Lower Street eine Frau ums Leben. Eine brennende Kerze könnte der Feuerwehr zufolge die Ursache für die Tragödie gewesen sein. Das Haus wurde restlos zerstört. Bei dem Opfer handelt es sich um die Ehefrau eines hiesigen Pfarrers.
Aus einem Auszug des Polizeiberichts ging hervor, dass Louisa und Nola in der Nacht zum 30. August 1969 gegen ein Uhr morgens, während Reverend David Kellergan am Sterbebett eines Gemeindemitglieds weilte, im Schlaf von einem Brand überrascht worden waren. Als Reverend Kellergan nach Hause kam, bemerkte er starke Rauchentwicklung. Er stürzte ins Innere: Der erste Stock brannte bereits. Es gelang ihm jedoch, ins Zimmer seiner Tochter vorzudringen. Er fand sie halb bewusstlos in ihrem Bett und trug sie in den Garten, dann wollte er seine Frau herausholen, aber das
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