Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Musik voll aufgedreht, und dann haben Sie sie nach Herzenslust verdroschen, stimmt’s?«
Wieder fuchtelte Kellergan mit seinem Gewehr herum. »Ich habe nie die Hand gegen sie erhoben! Sie wurde nie geschlagen! Sie sind ein Dreckskerl, Goldman! Ich nehme mir einen Anwalt, und dann bringe ich Sie vor Gericht!«
»Ach ja? Warum haben Sie das nicht längst getan? Na? Warum sind Sie nicht längst vor Gericht gezogen? Vielleicht haben Sie ja kein Interesse daran, dass man sich näher mit Ihrer Vergangenheit beschäftigt? Was ist in Alabama passiert?«
Er spuckte in meine Richtung. »Typen wie Sie kapieren auch gar nichts, Goldman!«
»Was ist mit Harry Quebert am Sea Side Motel vorgefallen? Was verheimlichen Sie uns?«
Jetzt begann auch Travis zu brüllen. Er drohte Gahalowood an, dessen Vorgesetzte zu informieren, und wir mussten abziehen.
Schweigend fuhren wir nach Concord. Irgendwann sagte Gahalowood: »Was haben wir übersehen, Schriftsteller? Was hatten wir vor Augen und haben es dennoch nicht gesehen?«
»Zumindest wissen wir jetzt, dass Harry etwas über Nolas Mutter weiß, was er mir nicht erzählt hat.«
»Und wir können davon ausgehen, dass der alte Kellergan weiß, dass Harry es weiß. Aber was, verdammt noch mal?«
»Sergeant, glauben Sie, der alte Kellergan könnte in diesen Fall verwickelt sein?«
Für die Presse war es ein gefundenes Fressen.
Neuigkeiten im Fall Harry Quebert: In Marcus Goldmans Erzählung wurden Unstimmigkeiten aufgedeckt, die die Glaubwürdigkeit seines ganzen Buchs infrage stellen. Dabei war dieses von der Kritik gerühmt und vom nordamerikanischen Verlagsmagnaten Roy Barnaski als wahrheitsgetreue Schilderung der Ereignisse präsentiert worden, die 1975 zur Ermordung der jungen Nola Kellergan geführt hatten.
Nach New York konnte ich nicht zurück, solange ich diesen Fall nicht aufgeklärt hatte, und so nahm ich Zuflucht in meiner Suite im Regent’s Hotel in Concord. Die einzige Person, mit der ich Kontakt aufnahm, war Denise, damit sie mich über die Geschehnisse in New York und die jüngsten Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Phantom Louisa Kellergan auf dem Laufenden halten konnte.
An diesem Abend lud mich Gahalowood zu sich nach Hause zum Essen ein. Seine Töchter waren als Wahlkampfhelferinnen für Obama tätig, belebten die Mahlzeit mit ihren Geschichten und schenkten mir Aufkleber für mein Auto. Als ich Helen später in der Küche beim Abwasch half, meinte sie, dass ich schlecht aussähe.
»Ich verstehe nicht, wie mir das passieren konnte«, gestand ich ihr. »Wie konnte ich mich nur so verrennen?«
»Dafür gibt es bestimmt einen guten Grund, Marcus. Wissen Sie, Perry hält große Stücke auf Sie. Er findet, dass Sie ein besonderer Mensch sind. Ich kenne ihn jetzt seit dreißig Jahren, und diesen Ausdruck hat er noch nie für jemanden gebraucht. Ich bin mir sicher, dass Sie nicht leichtfertig gehandelt haben und es für alles eine rationale Erklärung gibt.«
Danach zogen Gahalowood und ich uns für mehrere Stunden in sein Arbeitszimmer zurück, um das Manuskript zu lesen, das Harry mir hinterlassen hatte. Auf diese Weise entdeckte ich den unveröffentlichten Roman Die Möwen von Aurora , ein großartiges Buch, in dem Harry seine Geschichte mit Nola erzählte. Es war kein Datum angegeben, aber meiner Schätzung nach hatte er es nach Der Ursprung des Übels geschrieben. Während er in Letzterem nämlich eine unmögliche, nie gelebte Liebe schilderte, beschrieb er in Die Möwen von Aurora , wie Nola ihn inspiriert, wie sie unverbrüchlich an ihn geglaubt, ihn ermutigt und zu dem großen Schriftsteller gemacht hatte, der er dann geworden war. Doch in diesem Roman stirbt Nola am Ende nicht: Ein paar Monate nach seinem Erfolg verschwindet der Protagonist namens Harry, der ein Vermögen gemacht hat, und geht nach Kanada, wo Nola in einem hübschen Haus am See auf ihn wartet.
Um zwei Uhr morgens machte uns Gahalowood Kaffee und fragte: »Was versucht er uns mit seinem Buch zu sagen?«
»Er stellt sich vor, wie sein Leben aussehen würde, wenn Nola nicht tot wäre«, erklärte ich. »Dieses Buch ist das Paradies der Schriftsteller.«
»Das Paradies der Schriftsteller? Was ist das?«
»Das ist, wenn sich die Macht des Schreibens gegen Sie wendet. Sie wissen nicht mehr, ob Ihre Figuren nur in Ihrem Kopf oder tatsächlich existieren.«
»Und wie hilft uns das weiter?«
»Das weiß ich auch nicht. Es ist ein sehr gutes Buch, und trotzdem hat er es nie
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