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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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um sachdienliche Hinweise (…) Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens trug Nola Kellergan ein rotes Kleid (…) Ich sprang in panischer Angst auf, entledigte mich rasch der Blumen und machte mich, zerknittert und mit zerzaustem Haar, sofort auf den Weg nach Aurora. Das Zimmer war im Voraus bezahlt.
    Ich hatte noch nie so viel Polizei in Aurora gesehen. Es waren Fahrzeuge aus dem ganzen Umland da. Eine Straßensperre auf der Route 1 kontrollierte sämtliche Autos auf dem Weg in die Stadt und aus der Stadt. Ich sah den Polizeichef Gareth Pratt mit einer Pumpgun in der Hand.
    ›Ich habe es gerade im Radio gehört, Chief‹, sagte ich.
    ›Verfluchter Mist!‹, schimpfte der Chief.
    ›Was ist denn passiert?‹
    ›Das weiß niemand. Nola Kellergan ist von zu Hause verschwunden. Gestern Abend wurde sie in der Nähe der Side Creek Lane gesehen, aber seitdem gibt es nicht die geringste Spur von ihr. Die ganze Gegend ist abgeriegelt, der Wald wird durchkämmt.‹
    Im Radio wurde immer wieder ihre Beschreibung durchgegeben: Junges Mädchen, weiß, 1,58 Meter groß, fünfzig Kilo schwer, langes blondes Haar, grüne Augen, trägt ein rotes Kleid und eine Goldkette mit dem eingravierten Namen NOLA. Rotes Kleid, rotes Kleid, rotes Kleid, wiederholte das Radio. Das war ihr Lieblingskleid. Sie hatte es mir zuliebe angezogen. Das also habe ich am Abend des 30. August 1975 gemacht.«
    Roth und ich waren sprachlos.
    »Sie wollten mit ihr durchbrennen?«, fragte ich. »Sie wollten an dem Abend, an dem sie verschwunden ist, zusammen fliehen?«
    »Ja.«
    »Deshalb haben Sie gesagt, dass alles Ihre Schuld ist, als Sie mich neulich angerufen haben? Sie waren mit ihr verabredet, und auf dem Weg zum Treffpunkt ist sie verschwunden …«
    Er nickte betroffen. »Wer weiß, vielleicht wäre sie sonst noch am Leben …«
    Als wir den Raum verließen, sagte Roth zu mir, die Geschichte von ihrer geplanten Flucht sei eine Katastrophe und dürfe unter keinen Umständen durchsickern. Wenn die Anklage davon erführe, wäre Harry geliefert. Wir verabschiedeten uns auf dem Parkplatz, und erst als ich in meinem Wagen saß, schlug ich das Notizbuch auf und las, was Harry hineingekritzelt hatte:
    Marcus – auf meinem Schreibtisch steht eine Porzellanvase. Darin finden Sie einen Schlüssel. Er gehört zu meinem Garderobenschrank im Fitnessclub von Montburry. Die Nummer ist 201. Es ist alles dort drin. Verbrennen Sie alles. Ich bin in Gefahr.
    Montburry war die Nachbarstadt von Aurora und lag rund zehn Meilen weiter im Landesinneren. Noch am selben Nachmittag machte ich mich auf den Weg dorthin, nachdem ich kurz in Goose Cove vorbeigefahren war, um den in lauter Büroklammern versteckten Schlüssel aus der Vase zu holen. In Montburry gab es nur einen einzigen Fitnessclub, und der war in einem modernen Glasbau an der Hauptverkehrsader der Stadt untergebracht. In der menschenleeren Umkleide fand ich den Garderobenschrank mit der Nummer 201 und schloss ihn auf. Darin lagen ein Trainingsanzug, Proteinriegel, Handschuhe fürs Hanteltraining und die Holzschachtel, die ich vor ein paar Monaten in Harrys Arbeitszimmer entdeckt hatte. Es war alles da: die Fotos, die Zeitungsartikel, Nolas handgeschriebener Brief. Außerdem fand ich einen Packen gebundener vergilbter Seiten. Das Deckblatt war blank, ohne Titel. Ich überflog ein paar Seiten: Der Text war mit der Hand geschrieben, und schon nach wenigen Zeilen begriff ich, dass es sich um das Manuskript von Der Ursprung des Übels handelte. Das Manuskript, nach dem ich vor wenigen Monaten überall gesucht hatte, schlummerte in der Umkleidekabine eines Fitnessstudios! Ich setzte mich auf eine Bank und nahm mir einen Augenblick Zeit, um die Seiten fiebernd und voller Staunen durchzusehen: Die Niederschrift war makellos, es gab keinerlei Streichungen. Ein paar Männer kamen herein, um sich umzuziehen, aber ich beachtete sie nicht: Ich konnte die Augen nicht von diesem Text losreißen. Das Meisterwerk, das ich so gerne hätte schreiben wollen – Harry hatte es vollbracht! Er hatte sich in einem Diner an den Tisch gesetzt und diese absolut genialen Wörter und sublimen Sätze geschrieben, die ganz Amerika gerührt hatten, und dabei geschickt seine Liebesgeschichte mit Nola zwischen den Zeilen versteckt.
    Zurück in Goose Cove, hielt ich mich peinlich genau an Harrys Anweisung. Ich zündete im Wohnzimmerkamin ein Feuer an und warf den Inhalt der Schachtel hinein: den Brief, die Fotos, die Zeitungsausschnitte und schließlich

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