Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
alles.«
»Möchtest du mit mir darüber reden?«
»Wenn du willst.«
An diesem Abend erzählte ich Douglas von der Geschichte, die mich mit Harry verband. Nach dem Telefonat ging ich hinunter an den Strand. Ich brauchte frische Luft. Im Dunkeln waren dicke Wolken zu erkennen. Es war schwül, gleich würde ein Gewitter losbrechen. Plötzlich kam Wind auf. Die Bäume begannen wie wild zu wanken, als verkündete die ganze Welt das Ende des großen Harry Quebert.
Irgendwann kehrte ich zum Haus zurück. An der Eingangstür fand ich eine anonyme Nachricht, die jemand in meiner Abwesenheit dorthin gelegt hatte. Ein schlichter Umschlag ohne jede Aufschrift und darin die mit Computer geschriebene Nachricht:
Fahr nach Hause, Goldman.
28.
Von der Wichtigkeit, fallen zu können
Burrows College, Massachusetts, 1998 – 2002
»Harry, wenn von all Ihren Lektionen nur eine einzige übrig bleiben dürfte, welche wäre das?«
»Ich gebe die Frage an Sie zurück.«
»Für mich wäre es die von der Wichtigkeit, fallen zu können .«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung. Das Leben ist ein langer Sturz, Marcus. Das Wichtigste ist, fallen zu können.«
1998 war nicht nur das Jahr des großen Eissturms, der den Norden der USA und einen Teil Kanadas lahmlegte mit der Folge, dass Millionen unglücklicher Menschen tagelang im Dunkeln saßen, sondern es war auch das Jahr, in dem ich Harry begegnete. Nach meinem Abschluss in Felton rückte ich im Herbst des Jahres auf dem Campus des Burrows College ein, einem Mix aus Containerbauten und viktorianischen Gebäuden inmitten von ausgedehnten, tadellos gepflegten Rasenflächen. Man wies mir ein hübsches Zimmer im Ostteil des Wohnheims zu, das ich mit einem sympathischen Schmächtling aus Idaho namens Jared teilte, ein netter Schwarzer mit Brille, der aus einer sehr vereinnahmenden Familie stammte und, durch seine neue Freiheit offensichtlich zutiefst verunsichert, andauernd fragte, ob er etwas durfte oder nicht. »Darf ich rausgehen und mir eine Cola kaufen? Darf ich nach zweiundzwanzig Uhr noch zurück auf den Campus? Darf ich im Zimmer Lebensmittel aufbewahren? Darf ich im Unterricht fehlen, wenn ich krank bin?« Als ich ihm antwortete, dass er, seit im 13. Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung die Sklaverei abgeschafft worden war, tun und lassen könne, was er wolle, strahlte er vor Glück.
Jared hatte zwei Manien: lernen und seine Mutter anrufen, um ihr zu sagen, dass alles in Ordnung war. Ich nur eine: ein berühmter Schriftsteller werden. Ich schrieb pausenlos Kurzgeschichten für die Unizeitung, von denen aber nur jede zweite veröffentlicht wurde, noch dazu auf den schlechtesten Seiten der Zeitung, nämlich in der Werbebeilage der ortsansässigen Unternehmen, für die sich niemand interessierte: Druckerei Lukas, Forsters Ölwechsel, François’ Haarsalon oder Julie Hus Blumen . Ich fand das absolut empörend und ungerecht. Tatsächlich musste ich hier von Anfang an gegen einen ernst zu nehmenden Konkurrenten antreten, nämlich gegen Dominic Reinhartz, einen Studenten im dritten Jahr von außergewöhnlichem schriftstellerischen Talent, neben dem ich alt aussah. Er genoss bei der Zeitung eine Vorzugsbehandlung, und jedes Mal wenn eine Ausgabe erschien, durfte ich mir in der Bibliothek die bewundernden Kommentare unserer Kommilitonen anhören. Der Einzige, der unerschütterlich zu mir hielt, war Jared: Mit Begeisterung las er meine Kurzgeschichten, sobald sie aus dem Drucker kamen, und noch einmal, kaum dass sie in der Zeitung erschienen waren. Ich schenkte ihm zwar jedes Mal eine Ausgabe, aber er bestand trotzdem darauf, im Büro der Zeitungsredaktion die zwei Dollar zu bezahlen, die sie kostete und die er sich an den Wochenenden durch harte Arbeit bei der Putzkolonne des Colleges verdiente. Ich glaube, er hegte mir gegenüber eine grenzenlose Bewunderung. Oft sagte er: »Du bist ein Wahnsinnstyp, Marcus … Was hast du eigentlich in diesem Kaff in Massachusetts verloren?« An einem Abend im Altweibersommer hatten wir uns auf dem Campus auf den Rasen gelegt, um Bier zu trinken und uns den Sternenhimmel anzusehen. Natürlich hatte Jared vorher gefragt, ob man auf dem Campus überhaupt Bier trinken und im Dunkeln die Rasenflächen betreten dürfte, aber plötzlich hatte er eine Sternschnuppe entdeckt und geschrien: »Wünsch dir was, Marcus! Schnell, wünsch dir was!«
»Ich wünsche mir, dass wir es im Leben zu etwas bringen«, hatte ich geantwortet. »Was willst du später mal
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