Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
als Zeugen geladen werden. Und versuchen Sie herauszufinden, wer zu viel trinkt oder seine Frau schlägt: Ein Zeuge, der trinkt oder seine Frau schlägt, ist nämlich kein glaubwürdiger Zeuge.«
»Eine ziemlich miese Methode, finden Sie nicht?«
»Krieg ist Krieg, Goldman. Bush hat die Nation belogen, um den Irak anzugreifen, aber es war nötig. Sehen Sie doch selbst: Wir haben es Saddam gezeigt, wir haben das irakische Volk befreit, und seither geht es der Welt viel besser.«
»Die Mehrheit der Amerikaner war gegen diesen Krieg. Er war ein einziges Desaster.«
Er machte ein enttäuschtes Gesicht. »Oh nein«, sagte er. »Ich wusste es …«
»Was?«
»Werden Sie etwa die Demokraten wählen, Goldman?«
»Selbstverständlich werde ich die Demokraten wählen.«
»Sie werden sehen: Die werden stinkreichen Bürgern wie Ihnen sagenhafte Steuern aufbrummen. Aber dann fangt bloß nicht an zu heulen. Um Amerika zu regieren, braucht man Eier in der Hose. Und Elefanten haben nun mal größere Eier als Esel, das liegt in den Genen.«
»Was Sie nicht sagen, Roth! Die Demokraten haben die Präsidentschaftswahlen längst gewonnen, weil Ihr großartiger Krieg so unpopulär war, dass das Pendel zur anderen Seite ausgeschlagen hat.«
Er setzte ein spöttisches, fast ungläubiges Lächeln auf. »Das glauben Sie doch selbst nicht! Eine Frau und ein Schwarzer, Goldman! Eine Frau und ein Schwarzer! Sie sind doch ein intelligenter Bursche, deshalb jetzt mal im Ernst: Wer wählt schon eine Frau oder einen Schwarzen an die Spitze des Staates? Schreiben Sie darüber doch ein Buch, einen hübschen Science-Fiction-Roman. Und was kommt als Nächstes? Eine puerto-ricanische Lesbe und ein Indianerhäuptling?«
Nach den üblichen Formalitäten ließ mich Roth auf meine Bitte hin erst mal allein zu Harry in den Raum, in dem er uns erwartete. Er saß an einem Plastiktisch, trug Häftlingskleidung und wirkte bedrückt.
Als ich hereinkam, hellte sich seine Miene auf. Er erhob sich, und wir umarmten uns lange, bevor wir uns schweigend an die gegenüberliegenden Seiten des Tisches setzten. Nach einer Weile sagte er: »Ich habe Angst, Marcus.«
»Wir holen Sie hier raus, Harry.«
»Ich habe hier Fernsehen, wissen Sie. Ich kriege alles mit. Ich bin erledigt. Auch als Schriftsteller. Mein Leben ist vorbei. Das ist erst der Anfang vom Ende. Ich habe das Gefühl zu fallen.«
»Man darf nie Angst vor dem Fallen haben, Harry.«
Er verzog das Gesicht zu einem traurigen Lächeln. »Danke, dass Sie gekommen sind.«
»Dafür sind Freunde da. Ich wohne in Goose Cove und habe die Möwen gefüttert.«
»Wenn Sie nach New York zurückfahren wollen, würde ich das sehr gut verstehen.«
»Ich fahre nirgendwohin. Roth ist ein seltsamer Vogel, aber er macht den Eindruck, als wüsste er, was er tut. Er sagt, dass Sie freigesprochen werden. Ich bleibe hier und helfe ihm. Ich werde alles tun, um die Wahrheit ans Licht zu bringen und Ihre Ehre wiederherzustellen.«
»Und was ist mit Ihrem neuen Roman? Ihr Verleger erwartet ihn doch bis Ende des Monats, oder nicht?«
Ich ließ den Kopf hängen. »Es gibt keinen Roman. Mir fällt nichts mehr ein.«
»Was soll das heißen: Ihnen fällt nichts mehr ein?«
Ich antwortete nicht, sondern wechselte das Thema, indem ich die Zeitungsseite herauszog, die ich ein paar Stunden zuvor aus dem Clark’s mitgenommen hatte.
»Harry«, sagte ich, »es ist wichtig, dass ich alles verstehe. Ich muss die Wahrheit wissen. Ihr Anruf von neulich geht mir nicht aus dem Kopf: Sie haben sich gefragt, was Sie Nola angetan haben …«
»Die Gefühle sind mit mir durchgegangen, Marcus. Ich war kurz zuvor verhaftet worden und hatte das Recht auf einen Anruf, und der einzige Mensch, den ich benachrichtigen wollte, waren Sie. Und zwar nicht von meiner Verhaftung, sondern von ihrem Tod. Sie waren der Einzige, der von Nola wusste, und ich musste meinen Kummer mit jemandem teilen … All die Jahre hatte ich gehofft, dass sie noch lebt … irgendwo … Dabei war sie die ganze Zeit über tot. Sie war tot, und ich habe mich aus verschiedenen Gründen dafür verantwortlich gefühlt. Verantwortlich, weil ich sie nicht hatte beschützen können vielleicht. Aber ich habe ihr nie wehgetan! Ich schwöre Ihnen, dass ich in allem, was man mir zur Last legt, unschuldig bin.«
»Ich glaube Ihnen. Was haben Sie der Polizei erzählt?«
»Die Wahrheit: dass ich unschuldig bin. Warum hätte ich genau an der Stelle Blumen pflanzen lassen sollen? Das
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