Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
auch das Manuskript. Ich bin in Gefahr, hatte er geschrieben. Was für eine Gefahr meinte er? Die Flammen schlugen hoch: Nolas Brief zerfiel zu Staub, die Fotos bekamen in der Mitte Löcher und wurden von der Hitze aufgezehrt. Das Manuskript loderte in einer riesigen orangen Flamme auf, und die Seiten zerbröselten zu einem Haufen Asche. Ich saß vor dem Kamin und sah zu, wie sich die Geschichte von Harry und Nola in Rauch auflöste.
Dienstag, 3. Juni 1975
An diesem Tag war schlechtes Wetter. Der Nachmittag ging zu Ende, der Strand lag verlassen da. Noch nie seit seiner Ankunft in Aurora hatte der Himmel so schwarz und bedrohlich ausgesehen. Das Unwetter entfesselte den Ozean, er schäumte und wütete. Bald würde es regnen. Es war das schlechte Wetter, das ihn nach draußen gelockt hatte. Er war über die Holztreppe von der Terrasse zum Strand hinuntergegangen und hatte sich in den Sand gesetzt. Das Heft auf den Knien, ließ er den Stift übers Papier gleiten: Das heraufziehende Gewitter inspirierte ihn, er hatte Ideen für einen großen Roman. In den zurückliegenden Wochen hatte er bereits mehrere gute Ideen für sein neues Buch gehabt, doch keine davon war aufgegangen; er hatte sie schlecht eingeleitet oder schlecht ausgeführt.
Die ersten Tropfen fielen. Erst vereinzelt, dann, plötzlich, wolkenbruchartig. Er wollte gerade flüchten und sich unterstellen, als er sie sah: Die Sandalen in der Hand, ging sie barfuß im seichten Wasser spazieren; dabei tanzte sie im Regen und neckte die Wellen. Verdutzt blieb er stehen und beobachtete sie hingerissen. Sie folgte dem Muster der Ausläufer und gab acht, dass der Saum ihres Kleides nicht nass wurde. In einem kurzen Moment der Unachtsamkeit stieg ihr das Wasser bis zu den Knöcheln. Sie lachte überrascht auf, watete ein wenig tiefer ins graue Meer hinein, drehte sich im Kreis und bot sich der unermesslichen Weite dar. Es war, als gehörte ihr die Welt. Eine gelbe, mit Blumen verzierte Spange hielt ihr blondes, vom Wind gezaustes Haar zurück, damit ihr die Strähnen nicht ins Gesicht schlugen. Nun regnete es in Sturzbächen.
Als sie ihn in rund zehn Meter Entfernung entdeckte, hielt sie abrupt inne. Es war ihr peinlich, dass jemand sie gesehen hatte, und sie rief: »Tut mir leid … Ich habe Sie nicht bemerkt.«
Er fühlte sein Herz klopfen. »Bitte entschuldigen Sie sich nicht«, erwiderte er. »Ich bitte Sie, machen Sie weiter! Ich habe noch nie jemanden den Regen so genießen sehen.«
Sie strahlte. »Mögen Sie ihn auch?«, fragte sie übermütig.
»Wen?«
»Den Regen.«
»Nein … Eigentlich hasse ich Regen.«
Mit einem bezaubernden Lächeln fragte sie: »Wie kann man den Regen hassen? Ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen. Schauen Sie!«
Er hob den Kopf: Das Wasser perlte von seinem Gesicht ab. Er betrachtete die Millionen feiner Linien, die die Landschaft strichelten, und drehte sich um die eigene Achse. Sie tat dasselbe. Sie waren klatschnass und lachten. Schließlich flüchteten sie sich unter die auf Pfeilern ruhende Terrasse. Er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, die zum Teil vom sintflutartigen Regen verschont geblieben waren, und zündete sich eine an.
»Kriege ich auch eine?«, bat sie.
Er hielt ihr das Päckchen hin, und sie bediente sich. Er war überwältigt.
»Sie sind der Schriftsteller, stimmt’s?«, fragte sie.
»Ja.«
»Sie kommen aus New York …«
»Ja.«
»Ich muss Sie etwas fragen: Warum sind Sie aus New York in dieses verlassene Nest gekommen?«
Er lächelte. »Ich hatte Lust auf einen Tapetenwechsel.«
»Ich würde so gern mal nach New York fahren!«, schwärmte sie. »Ich würde stundenlang durch die Stadt laufen und mir alle Shows am Broadway ansehen. Ich träume davon, ein Star zu sein, ein Star in New York …«
»Verzeihen Sie«, unterbrach Harry sie, »aber kennen wir uns?«
Wieder lachte sie ihr bezauberndes Lachen. »Nein. Aber jeder weiß, wer Sie sind. Sie sind der Schriftsteller. Willkommen in Aurora, Sir. Ich heiße Nola. Nola Kellergan.«
»Harry Quebert.«
»Ich weiß. Jeder hier weiß das, das habe ich Ihnen doch gesagt.«
Er streckte ihr zur Begrüßung die Hand hin, aber sie stützte sich auf seinen Arm, reckte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Ich muss jetzt gehen. Sie verraten doch niemandem, dass ich geraucht habe, oder?«
»Nein, Ehrenwort.«
»Auf Wiedersehen, Herr Schriftsteller. Hoffentlich sehen wir uns wieder.« Sie verschwand im
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