Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
an dem haben, was Sie gerade tun, gehen Sie joggen. Laufen Sie bis zur Besinnungslosigkeit. Dann werden Sie spüren, wie eine wütende Entschlossenheit in Ihnen aufsteigt. Wissen Sie, Marcus, ich habe den Regen früher auch nicht ausstehen können …«
»Was hat Sie dazu gebracht, Ihre Meinung zu ändern?«
»Ein Mensch.«
»Wer?«
»Na los, gehen Sie laufen! Und kommen Sie erst wieder, wenn Sie fix und fertig sind.«
»Wie soll ich etwas lernen, wenn Sie mir nie etwas erzählen?«
»Sie fragen zu viel, Marcus. Viel Spaß beim Joggen!«
Er war ein bulliger Kerl und wirkte nicht sehr umgänglich: ein Afroamerikaner mit Händen wie Fleischklopfer, dessen zu enger Blazer den kräftigen, untersetzten Körperbau verriet. Als ich ihn zum ersten Mal sah, richtete er einen Revolver auf mich. Übrigens war er der Erste, der mich jemals mit einer Waffe bedrohte. Er trat am 18. Juni 2008 in mein Leben. Das war der Tag, an dem ich ernsthafte Ermittlungen in den Mordfällen Nola Kellergan und Deborah Cooper aufnahm. An diesem Morgen, knapp achtundvierzig Stunden nach meiner Ankunft in Goose Cove, beschloss ich, dass es Zeit war, mir das gähnende Loch vorzunehmen, das man zwanzig Meter vom Haus entfernt gegraben hatte und das ich mir bislang nur aus der Entfernung angesehen hatte. Ich schlüpfte also unter der Polizeiabsperrung hindurch und inspizierte ausgiebig das Terrain, das ich so gut kannte. Goose Cove lag eingebettet zwischen Strand und Küstenwald, und weder Zäune noch Verbotsschilder grenzten das Grundstück ab. Es war also frei zugänglich, und nicht selten sah man Spaziergänger am Strand entlang oder durch den nahen Wald gehen. Das Loch befand sich auf einem zwischen Terrasse und Wald gelegenen Rasenstück hoch über dem Meer. Als ich nun davorstand, schwirrten mir tausend Fragen durch den Kopf, allen voran die, wie viele Stunden ich wohl auf dieser Terrasse und in Harrys Arbeitszimmer verbracht hatte, während die Leiche dieses Mädchens hier unter der Erde ruhte. Ich machte mit dem Handy ein paar Fotos und sogar einige Videoaufnahmen und versuchte mir den verwesten Körper vorzustellen, den die Polizei gefunden haben musste. Ich stand so unter dem Bann des Tatorts, dass ich die bedrohliche Gestalt hinter mir nicht bemerkte. Erst als ich mich umdrehte, um den Abstand zur Terrasse zu filmen, entdeckte ich den Mann, der ein paar Meter hinter mir stand und einen Revolver auf mich richtete. Ich schrie: »Nicht schießen! Verdammt, nicht schießen! Ich bin Marcus Goldman, der Schriftsteller!«
Sofort ließ er die Waffe sinken. »Sie sind Marcus Goldman?«
Er schob den Revolver in ein Halfter an seinem Gürtel, und dabei sah ich, dass er eine Dienstmarke trug.
»Sie sind Polizist?«, fragte ich.
»Sergeant Perry Gahalowood. Mordkommission der State Police. Was haben Sie hier zu suchen? Das hier ist ein Tatort.«
»Machen Sie das öfter, ich meine, mit Ihrer Kanone auf andere Menschen zielen? Was, wenn ich von der Federal Police wäre? Dann würden Sie jetzt blöd aus der Wäsche schauen! Ich würde Sie auf der Stelle feuern lassen.«
Er lachte schallend. »Sie? Ein Bulle? Seit zehn Minuten beobachte ich Sie, wie Sie auf Zehenspitzen herumtrippeln, um Ihre Mokassins nicht schmutzig zu machen. Außerdem fangen Beamte von der Federal Police nicht an zu schreien, wenn sie eine Waffe sehen, sondern ziehen ihre eigene und schießen auf alles, was sich bewegt.«
»Ich habe Sie für einen Gangster gehalten.«
»Weil ich schwarz bin?«
»Nein, weil Sie eine Gangstervisage haben. Ist das eine Indianerkrawatte?«
»Ja.«
»Völlig aus der Mode.«
»Sagen Sie mir jetzt, was Sie hier zu suchen haben?«
»Ich wohne hier.«
»Was soll das heißen?«
»Ich bin ein Freund von Harry Quebert. Er hat mich gebeten, mich in seiner Abwesenheit um das Haus zu kümmern.«
»Sie sind ja total verrückt! Harry Quebert ist des zweifachen Mordes angeklagt, sein Haus wurde durchsucht, und der Zutritt ist verboten. Ich loche Sie ein, mein Guter.«
»Sie haben das Haus nicht versiegelt.«
Im ersten Augenblick war er perplex, dann erwiderte er: »Ich habe nicht damit gerechnet, dass ein Sonntagsschreiber das Haus besetzt.«
»Rechnen sollte man aber können, sogar als Polizist.«
»Ich werde Sie trotzdem einbuchten.«
»Juristisches Vakuum!«, rief ich. »Keine Siegel, kein Verbot! Ich bleibe hier. Sonst zerre ich Sie bis vor den Obersten Gerichtshof und verklage Sie, weil Sie mich mit Ihrer Kanone bedroht haben. Und ich
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