Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
geliebt.«
»Das sagen sie alle, wenn man ihnen den Prozess macht: ›Ich habe sie zu sehr geliebt, darum musste ich sie töten.‹ Wer liebt, tötet nicht.« Mit diesen Worten stand Gahalowood von seinem Stuhl auf, um mir klarzumachen, dass er mir nichts mehr zu sagen hatte.
»Sie gehen schon, Sergeant? Aber unsere Ermittlungen haben doch gerade erst begonnen.«
»Unsere? Sie meinen meine.«
»Wann sehen wir uns wieder?«
»Nie, Schriftsteller. Nie.«
Er ging ohne jeden weiteren Gruß.
Auch wenn mich dieser Gahalowood nicht ernst nahm – Travis Dawn tat es durchaus, als ich ihn wenig später auf dem Polizeirevier von Aurora aufsuchte und ihm die anonyme Botschaft zeigte, die ich am Vorabend entdeckt hatte. »Das hier habe ich in Goose Cove gefunden«, sagte ich und legte ihm den Zettel auf den Schreibtisch.
Er las ihn. » Fahr nach Hause, Goldman ? Von wann ist das?«
»Von gestern Abend. Ich war am Strand spazieren. Als ich zurückkam, steckte diese Nachricht in der Haustür.«
»Ich nehme an, du hast nichts Auffälliges bemerkt …«
»Nein, nichts.«
»War es das erste Mal?«
»Ja. Aber ich bin ja auch erst seit zwei Tagen hier.«
»Ich werde eine Anzeige aufnehmen, damit die Sache aktenkundig ist. Du solltest vorsichtig sein, Marcus.«
»Du hörst dich an wie meine Mutter.«
»Nein, im Ernst. Du darfst bei dieser ganzen Geschichte die emotionale Seite nicht unterschätzen. Kann ich diesen Brief behalten?«
»Er gehört dir.«
»Danke. Was kann ich sonst noch für dich tun? Ich gehe davon aus, dass du nicht nur gekommen bist, um mit mir über dieses Stück Papier zu reden.«
»Ich möchte dich bitten, mit mir nach Side Creek zu fahren, wenn du Zeit hast. Ich möchte gern den Ort sehen, an dem alles passiert ist.«
Travis erklärte sich nicht nur bereit, mit mir nach Side Creek zu fahren, sondern ermöglichte mir außerdem eine Zeitreise, die mich dreiunddreißig Jahre zurück in die Vergangenheit führte. Wir fuhren mit seinem Dienstwagen haargenau die Strecke ab, die er zurückgelegt hatte, nachdem er Deborah Coopers ersten Anruf entgegengenommen hatte. Von Aurora kommend, folgten wir der Route 1 an der Küste entlang in Richtung Maine, kamen an Goose Cove vorbei und gelangten ein paar Meilen später an den Waldrand bei Side Creek und zur Kreuzung mit der Side Creek Lane, an deren Ende Deborah Cooper gewohnt hatte. Travis bog ab, und kurz darauf standen wir vor ihrem Haus, einem hübschen, von Wald umgebenen und dem Meer zugewandten Holzbau. Ein wunderschöner, aber gottverlassener Ort.
»Hier hat sich nichts verändert«, meinte Travis, als wir ums Haus gingen. »Nur der Anstrich ist neu, er ist ein klein wenig heller als der alte. Sonst ist alles genau wie damals.«
»Wer wohnt jetzt hier?«
»Ein Ehepaar aus Boston, das hier die Sommermonate verbringt. Sie kommen im Juli und fahren Ende August wieder ab. Die übrige Zeit steht es leer.«
Er zeigte mir die Hintertür, die zur Küche führte, und sagte: »Als ich Deborah Cooper zum letzten Mal lebend gesehen habe, hat sie vor dieser Tür gestanden. Chief Pratt war gerade eingetroffen. Er hat zu ihr gesagt, dass sie lieber im Haus bleiben und sich keine Sorgen machen solle, und dann sind wir losgezogen, um den Wald abzusuchen. Wer hätte ahnen können, dass sie zwanzig Minuten später durch einen Schuss in die Brust umgebracht würde?«
Travis steuerte auf den Wald zu. Ich begriff, dass er demselben Weg folgte, den er dreiunddreißig Jahre zuvor mit Chief Pratt eingeschlagen hatte.
»Was ist eigentlich aus Chief Pratt geworden?«, fragte ich und heftete mich an seine Fersen.
»Er ist im Ruhestand. Er wohnt immer noch in Aurora, im Mountain Drive. Du bist ihm bestimmt schon über den Weg gelaufen. Ein eher stämmiger Typ, der ständig und überall Golfhosen trägt.«
Wir schlugen uns zwischen den Baumreihen durch. Trotz des dichten Bestands war weiter vorn, etwas tiefer gelegen, der Strand zu erkennen. Nach einem gut viertelstündigen Fußmarsch blieb Travis abrupt an drei kerzengeraden Kiefern stehen.
»Hier war es«, verkündete er.
»Hier war was ?«
»Hier haben wir das Blut, die blonden Haarbüschel und einen roten Stofffetzen gefunden. Es war grauenhaft. Ich werde diese Stelle immer wiedererkennen. Mittlerweile ist zwar mehr Moos auf den Steinen, und die Bäume sind größer, aber für mich hat sie sich nicht verändert.«
»Was habt ihr dann gemacht?«
»Wir haben begriffen, dass die Sache ernst ist, aber uns blieb keine
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