Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
nicht schaffte, mich zu überreden, rief Barnaski mich schließlich höchstpersönlich an, um mir eine kleine Lektion in Sachen Marktwirtschaft zu erteilen.
»Das Publikum will dieses Buch«, behauptete er. »Hören Sie sich das an: Ein paar Fans stehen sogar unten vor unserem Gebäude und skandieren Ihren Namen.«
Er schaltete auf Lautsprecher und gab seinen Mitarbeitern einen Wink, die daraufhin aus vollen Lungen Gold-man! Gold-man! Gold-man! brüllten .
»Das sind keine Fans, Roy, das sind Ihre Mitarbeiter. Guten Tag, Marisa.«
»Guten Tag, Marcus«, antwortete Marisa.
Barnaski griff wieder zum Hörer. »Überlegen Sie doch mal, Goldman: Wir bringen das Buch im Herbst. Der Erfolg ist vorprogrammiert! Anderthalb Monate, um das Ding zu schreiben – geht das für Sie in Ordnung?«
»Anderthalb Monate? Ich habe zwei Jahre für mein erstes Buch gebraucht. Außerdem weiß ich nicht mal, was ich zu dem Thema schreiben sollte. Bis jetzt weiß niemand, was passiert ist.«
»Ich kann Ihnen Ghostwriter * [* Der Begriff Ghostwriter ist mittlerweile so geläufig, dass dabei ganz in Vergessenheit gerät, was in der Originalsprache so schön anklingt: das Geisterhafte, weil Unwürdige dieser Tätigkeit. (Anm. d. Autors)] besorgen, damit Sie schneller vorankommen. Das muss keine große Literatur werden. Die Leute wollen vor allem wissen, was Quebert mit der Kleinen angestellt hat. Also halten Sie sich einfach an die Fakten, und bereiten Sie sie mit ein bisschen Spannung, Schmuddelkram und natürlich mit ein bisschen Sex auf.«
»Sex?«
»Also, Goldman, ich muss Ihnen doch wohl nicht Ihren Job erklären! Wer wird das Buch schon kaufen, wenn es darin nicht ein paar unanständige Szenen zwischen dem Tattergreis und der Siebenjährigen gibt? Das ist es, was die Leute wollen. Selbst wenn das Buch nichts taugt, werden wir es tonnenweise verkaufen. Und darum geht es doch, oder nicht?«
»Harry war damals vierunddreißig und Nola fünfzehn!«
»Jetzt seien Sie nicht so kleinlich! Wenn Sie mir das Buch schreiben, löse ich Ihren alten Vertrag auf und biete Ihnen obendrein eine halbe Million Dollar Vorschuss als Dank für Ihre Kooperation.«
Als ich rundweg ablehnte, platzte Barnaski der Kragen: »Na gut, wenn Sie unbedingt der Spielverderber sein wollen, Goldman, dann kann ich auch anders: Ich erwarte das Manuskript in genau elf Tagen, sonst haben Sie einen Prozess am Hals, und das ist Ihr Ruin!«
Er knallte den Hörer auf. Wenig später, als ich gerade im Gemischtwarenladen an der Hauptstraße ein paar Einkäufe machte, erhielt ich einen Anruf von Douglas, der mich abermals zu überreden versuchte. Bestimmt hatte Barnaski ihn darauf angesetzt.
»Marc, du darfst in dieser Sache nicht ehrpusselig sein«, redete er mir ins Gewissen. »Ich erinnere dich daran, dass Barnaski dich in der Hand hat! Dein alter Vertrag gilt nach wie vor, und deine einzige Chance, ihn aufzuheben, besteht darin, seinen Vorschlag zu akzeptieren. Außerdem wird deine Karriere mit diesem Buch explodieren. Eine halbe Million Vorschuss – es gibt Schlimmeres, oder?«
»Barnaski will, dass ich eine Art Schundroman schreibe! Kommt nicht infrage. So ein Buch mache ich nicht. Ich schmiere nicht in ein paar Wochen irgendeinen Dreck zusammen. Gute Bücher brauchen Zeit.«
»Aber das sind die modernen Methoden! So macht man Umsatz! Verträumte Schriftsteller, die auf der Suche nach Inspiration warten, bis der erste Schnee fällt, das war einmal! Um dein Buch wird man sich schon reißen, noch bevor auch nur eine Zeile davon existiert, weil die Leute alles wissen wollen. Und zwar sofort. Das Marktfenster ist begrenzt: Im Herbst sind Präsidentschaftswahlen, und die Kandidaten bringen bestimmt Bücher heraus, die das öffentliche Interesse komplett in Beschlag nehmen werden. Das Buch von Barack Obama ist bereits in aller Munde. Unglaublich, was?«
Ich glaubte überhaupt nichts mehr. Ich bezahlte die Einkäufe und ging zurück zu meinem auf der Straße geparkten Wagen. Da entdeckte ich, hinter einen Scheibenwischer geklemmt, das Stück Papier. Wieder dieselbe Botschaft:
Fahr nach Hause, Goldman.
Ich schaute mich um: Niemand zu sehen. Ein paar Leute an Tischen auf einer nahe gelegenen Terrasse; Kunden, die gerade den Laden verließen. Wer stellte mir nach? Wem passte es nicht, dass ich im Mordfall Nola Kellergan ermittelte?
Am Freitag, den 20. Juni, dem Tag nach diesem neuerlichen Zwischenfall, machte ich mich wieder auf den Weg ins Gefängnis, um Harry zu
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