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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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mit angeschlossenem Mikrofon heraus und baute ihn vor Harry auf.
    »Marcus, was verflucht noch mal soll das? Sagen Sie bloß, Sie haben diese Höllenmaschine aufgehoben …«
    »Aber sicher, Harry. Ich habe sie wie meinen Augapfel gehütet.«
    »Packen Sie das wieder ein, ja?«
    »Machen Sie nicht so ein Gesicht, Harry …«
    »Was zum Teufel haben Sie mit diesem Gerät vor?«
    »Ich will, dass Sie mir von Nola, von Aurora, von allem erzählen … Vom Sommer 1975, von Ihrem Buch. Ich muss alles wissen. Irgendwo, Harry, muss die Wahrheit verborgen liegen.«
    Er lächelte betrübt. Ich schaltete das Aufnahmegerät ein und ließ ihn reden. Was für ein schönes Bild: Im Besuchsraum dieses Gefängnisses, in dem Männer mit ihren Frauen und Eltern mit ihren Kindern an Plastiktischen zusammensaßen, ließ ich mir von meinem alten Lehrmeister seine Geschichte erzählen.
    Auf dem Heimweg nach Aurora aß ich zeitig zu Abend. Da mir anschließend nicht danach war, sofort nach Goose Cove zurückzukehren und in dem riesigen Haus allein zu sein, fuhr ich ein Stück die Küste entlang. Der Tag ging zur Neige, das Meer schimmerte: Alles war wunderschön. Ich kam am Sea Side Motel, am Wald von Side Creek, an der Side Creek Lane und an Goose Cove vorbei, durchquerte Aurora und stellte den Wagen am Grand Beach ab. Dort ging ich zum Wasser hinunter und setzte mich auf die Kieselsteine, um zuzusehen, wie sich der Abend herabsenkte. In der Ferne tanzten die Lichter von Aurora im Spiegel der Wellen, die Wasservögel kreischten, im Gebüsch ringsumher sangen Nachtigallen, und ab und zu tutete das Nebelhorn eines Leuchtturms. Ich schaltete das Aufnahmegerät ein, und Harrys Stimme erklang in der Dunkelheit:
    Kennen Sie den Grand Beach, Marcus? Wenn man aus Richtung Massachusetts kommt, ist es gleich der erste Strand von Aurora. Manchmal gehe ich in der Abenddämmerung dorthin und schaue mir die Lichter der Stadt an. Und dann denke ich über alles nach, was in den letzten dreißig Jahren passiert ist. An diesem Strand habe ich am Tag meiner Ankunft in Aurora angehalten. Es war der 20. Mai 1975. Ich war damals vierunddreißig und kam direkt aus New York, wo ich beschlossen hatte, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ich hatte alles aufgegeben, meine Stelle als Literaturlehrer gekündigt, meine Ersparnisse abgehoben und mir vorgenommen, mich als Schriftsteller durchzuschlagen. Ich wollte mich nach Neuengland zurückziehen und den Roman schreiben, den ich mir erträumte.
    Ursprünglich wollte ich ein Haus in Maine mieten, aber ein Immobilienmakler in Boston brachte mich auf Aurora. Er erzählte mir von einem Traumhaus, das angeblich genau dem entsprach, wonach ich suchte: Goose Cove. Als ich zum ersten Mal vor diesem Haus stand, habe ich mich sofort darein verliebt. Es war genau der Ort, den ich brauchte: ruhig und in einer Wildnis, die nicht völlig von der Welt abgeschnitten war, weil nur wenige Meilen von Aurora entfernt. Auch die Stadt gefiel mir sehr. Das Leben dort wirkte unbeschwert, die Kinder spielten vollkommen sorglos auf der Straße, die Kriminalitätsrate war gleich null: eine Postkartenidylle. Das Haus in Goose Cove überstieg zwar deutlich meine finanziellen Möglichkeiten, aber die Agentur war damit einverstanden, dass ich die Miete in zwei Teilbeträgen zahlte. Also machte ich Kassensturz: Wenn ich nicht zu viel ausgab, würde ich mit meinem Geld hinkommen. Außerdem hatte ich das gute Gefühl, die richtige Wahl getroffen zu haben. Ich täuschte mich nicht, denn diese Entscheidung hat mein Leben verändert: Das Buch, das ich in jenem Sommer schrieb, sollte mich reich und berühmt machen.
    Ich glaube, was mir so sehr an Aurora gefiel, war die Sonderstellung, die ich schon bald genoss: In New York war ich nur ein Lehrer an einer Highschool und ein unbekannter Autor gewesen, aber in Aurora war ich Harry Quebert, ein Schriftsteller, der aus New York gekommen war, um seinen nächsten Roman zu schreiben. Wissen Sie, diese Geschichte mit dem Fabelhaften , Marcus, damals, auf der Highschool, als Sie allen etwas vorgegaukelt haben, um sich hervorzutun – genau dasselbe passierte mir, nachdem ich hier gelandet war. Ich war ein selbstbewusster junger Mann, elegant, gut aussehend, athletisch und kultiviert und wohnte zu allem Überfluss im prachtvollen Anwesen von Goose Cove. Die Einheimischen, die nicht einmal meinen Namen kannten, schlossen aus meinem Auftreten und dem Haus, das ich bewohnte, auf meinen Erfolg. Es fehlte nicht

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